FIND 2023
Kuro Tanino am Meer
»Fortress of Smiles» zum FIND 2023 an der Schaubühne

von Joseph Pearson

12. April 2023

Die Küste des Japanischen Meeres ist eine Berglandschaft: Vom Ufer aus sind gewaltige Gipfel zu sehen, die vielerorts fast bis ans Wasser heranreichen. Erst 2015 wurden die Bezirkshauptstädte Kanazawa und Toyama mit Hilfe von Shinkansen, japanischen Hochgeschwindigkeitszügen, mit der Landeshauptstadt verbunden. Jetzt kann man im Vorbeirauschen auf die riesigen Meereswogen und die kleinen Fischerdörfer einen Blick aus der Geborgenheit eines makellosen Zugabteils heraus werfen, so wie ich es tue, während ich diese Vorschau schreibe. Trotz der futuristischen Infrastruktur entsteht der Eindruck, dass diese Region immer noch sehr viel isolierter ist und viel weniger mit Kommerz und Konsum verbunden als die Metropolen Osaka und Tokio. Seit vielen Jahren ziehen die jungen Menschen in die Großstädte und lassen die älteren Menschen zurück, was die Gemeinden langsam entvölkert. Die Distanz zwischen der Hauptstadt und der Provinz ist ein roter Faden, der sich durch Kuro Taninos 笑顔の砦 (»Fortress of Smiles») zieht. Tatsächlich stammt der Regisseur aus Toyama, und in dem Stück, welches er zum FIND 2023 mitbringt, wird eine kleine Gemeinde entlang dieser Küstenlandschaft abgebildet.

Tanino erzählt mir: »Ich wollte den Schmerz und die Freude darstellen, die sich von denen einer Großstadt unterscheiden. Ich wollte jene kleinen, schlichten und oft übersehenen Momente zum Ausdruck bringen, die eine gewisse Schönheit in sich tragen. Die Gegend um Toyama, wo ich meine Kindheit verbracht habe, liegt direkt am Meer und ist ein einträgliches Fischfanggebiet. Ich bin auch nicht weit vom Meer aufgewachsen und habe ein einfaches Leben kennengelernt. Ich glaube, dass mein ganz spezielles Zeitempfinden von den Erfahrungen geprägt ist, die ich mit dem Verlassen meiner ländlichen Heimat Toyama in jungen Jahren und dem Leben allein im Großstadtgewirr von Shibuya gesammelt habe.«

Diese Betonung des einerseits ländlichen und andererseits städtischen Japan taucht immer wieder in seinen Arbeiten auf. Das Stück »Avidya, No Lights Inn« (2015), das 2018 auf dem Festival d’Automne in Paris aufgeführt wurde, dreht sich zum Beispiel um Gäste aus Tokio in einem Hotel auf dem Land. Weil er erwähnt hat, dass sich sein Studio in einem der belebtesten Orte seines Landes befindet (Shibuya, Tokio), ergibt sich für mich die Frage, wie persönlich diese Beobachtungen eigentlich sind.

»Auf dem Land gibt es Freuden, die in großen Städten nicht existieren und die sich dort auch nicht umsetzen lassen,« antwortet er. »Nämlich die Fülle der Natur im eigenen täglichen Leben zu ahnen und zu spüren, dass man als Mensch ein Teil davon ist. Dieses bescheidene Selbstwertgefühl bewirkt eine Transformation der Zeit im Theaterraum.«

Als Besucher in Japan möchte ich wissen, welchen Einfluss das lokale Umfeld auf Beziehungen in seinem Stück hat. Tanino hat mir bereits erzählt, dass es in dieser Inszenierung kulturspezifische Elemente gibt, wie zum Beispiel »ein Gespür für den Abstand zwischen Menschen«, die er einzigartig findet: »Es ist sehr japanisch, den richtigen Abstand zwischen einzelnen Menschen anhand von Familien-, Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen, Alter, Geschlecht und allen möglichen anderen Faktoren einzuschätzen.« Also formuliere ich meine Frage folgendermaßen: Wie passt diese Arbeit in die japanische Tradition, sowohl die herkömmliche als auch die zeitgenössische? Aber vielleicht spielen solche Überlegungen für ihn in seinem Theaterschaffen auch gar keine Rolle...

»Darüber habe ich nie nachgedacht,« erwidert Tanino, »Und das hat auch seinen Grund. Es liegt daran, dass ich mich fortwährend bemühe, meinen Stil zu verändern. Man könnte das auch als immanenten Selbstzerstörungstrieb bezeichnen. Ich möchte mich selbst nicht festlegen, und meine Arbeit auch nicht. Zumindest kann ich auf diese Weise der Gefahr entgehen, mich selbst zu hassen. Es trifft allerdings auch zu, dass in mir – auf unterbewusster oder DNA-Ebene – ein unzerstörbares »Japan« existiert. Ich will es gar nicht leugnen oder abstreiten, aber ich werde mich auch nicht damit aufhalten, es zu analysieren...«

Ich frage: »Könnten Sie uns denn dann von den Ursprüngen der Idee für dieses Theaterstück erzählen?«

Tanino wollte eine bestimmte Art älteren Mann – japanisch »ossan« – auf die Bühne bringen: »Eine verantwortungslose, egoistische Person, die sich ethisch-moralisch nicht verbessern kann, die nicht gesellschaftstauglich ist, kein Interesse an Gemeinschaft oder der Welt hat. Jemand, der von der jüngeren Generation einfach ignoriert oder abgelehnt werden würde. Ein »erbärmlicher alter Mann« in der japanischen Gesellschaft, der als nutzlos angesehen wird. Wer schenkt solchen »alten Männern« überhaupt irgendwelche Beachtung? Ich. Also habe ich sie zum Thema des Stücks gemacht.«

Ich frage ihn, wie er mit den Schauspieler_innen umgeht, die diese Rollen verkörpern, und er fährt – jetzt lachend – fort, dass er sie genauso anleitet, wie man »einen Bonsaibaum pflegt... es geht darum, der Kraft der Natur zu vertrauen, und ums Warten. Es geht darum, etwas sehr stark zurückzuschneiden: Regie zu führen, aber auf ein Minimum beschränkt.« Er führt weiter aus, dass er als Bühnenautor häufig seine Konzentration auf bestimmte Aspekte der Regie – er selbst nennt es »Besessenheit« – im Zaum halten muss. »Diese Obsession oder Fixation verursacht während der Proben jede Menge Probleme. Das Bild des »Aufziehens eines Bonsaibaums« – dass ich der Natur vertrauen und warten, und das Regieführen auf ein Minimum beschränken muss – rufe ich mir immer wieder in Erinnerung, um diese Probleme zu vermeiden.«

»Und was ist mit dem Titel Ihres Stücks, »Fortress of Smiles«?«, frage ich.

Der Regisseur antwortet, dass die Gesellschaft, die er darstellt, isoliert ist, was von der Vertrautheit des täglichen Lebens versinnbildlicht wird: »Ich wollte damit meinen Wunsch ausdrücken, diese kleine Gemeinschaft gegen äußeren Druck zu schützen.«

Die Handlung des Stücks entfaltet sich in zwei Häusern in einer ländlichen Gemeinschaft. In einem Haus leben ausgelassene Fischer, in einem anderen eine alte Frau mit nachlassenden geistigen Fähigkeiten, die von ihrer Familie unterstützt wird, einschließlich einer Enkelin, die widerwillig aus der Großstadt angereist ist. Tanino stammt aus einer Familie von Psychiatern; er selbst hat den Beruf auch studiert und ausgeübt.

»Meine persönliche Vorgeschichte als Psychiater hat das Stück zweifelsohne auf vielfältige Art beeinflusst. Ich habe aber niemals jemandes Geist unter analytischen Gesichtspunkten betrachtet. Ich glaube einfach nicht daran, dass die menschliche Komplexität etwas ist, was sich analysieren lässt. Ich betrachte auch Demenz nicht aus medizinischer Perspektive. Alle Formulierungen, welche die ältere, von Demenz betroffene Frau in dieser Inszenierung gebraucht, sind Sachen, die meine Großmutter gesagt hat. Die Unterhaltungen zwischen meiner Mutter und meiner von Demenz betroffenen Großmutter, die ich beobachten konnte, haben diese Inszenierung maßgeblich geprägt.«

Im Bühnenbild sind diese beiden benachbarten Häuser mit vielen Details ausgestattet, wie Ölgemälde oder lebende Bilder. Taninos Arbeiten sind bekannt für ihre Bühnenausstattungen – er hat mir Zeichnungen seiner Bühnenbilder und Requisiten geschickt, die unten zu sehen sind. Der Bühnenbildner Takuya Kamiike, der auch in einem kleinen Ort am Meer lebt, hat viele der Requisiten auf Ausflügen zu Fischereihäfen gefunden. Einige Teile bestehen aus umfunktioniertem Altholz, und die Fusumas, also die Schiebetüren aus Papier und Holz, sowie die Tatami-Matten stammen aus verlassenen Wohnhäusern.

In diesen Räumlichkeiten wird das Leben ganz normaler Menschen beschrieben, doch Tanino macht sich Naturalismus einerseits zu eigen und verwirft ihn zugleich, wie er selbst sagt: »Ich versuche, ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, so dass keine übermäßig einseitige Darstellung passiert. Und diese Einschätzung hat nichts mit richtig oder falsch, gut oder schlecht zu tun, sie basiert vielmehr darauf, ob ein gewisser Humor vorhanden ist, ob es etwas gibt, worüber man lachen kann. Es stimmt, dass ein Teil von mir auf Naturalismus zurückgreift und ein anderer Teil ihn ablehnt, aber ich sehe das mit bzw. als eine Art von Humor. Und der kommt, glaube ich, aus meinem immanenten Selbstzerstörungstrieb.«

Mit Dank an Aki Naito für seine Übersetzungen aus dem Japanischen.

笑顔の砦 (Fortress of Smiles)

(Tokio)
von Kuro Tanino
Regie: Kuro Tanino
Saal A

Premiere war am 22. April 2023