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FIND 2023
Nostalgisch, nicht sentimental
The Wooster Group als »Artist in Focus« an der Schaubühne

von Joseph Pearson

12. April 2023

The Wooster Group ist nach der Wooster Street im New Yorker Stadtteil SoHo benannt, in der sich das Theatergebäude der Kompanie befindet. In den 1970er Jahren war diese Gegend im Zentrum von Manhattan ein Zufluchtsort für Künstler, die die Fabriketagen südlich des Greenwich Village erwarben und sanierten. The Wooster Group machte sich einen dieser Orte zur Heimstätte und nannte ihn »The Performing Garage«. Viele Größen des amerikanischen Theaters – darunter Willem Dafoe, Spalding Gray, Steve Buscemi und Frances McDormand – haben ihre schauspielerische Karriere in der »Garage« vorangetrieben, in der post-dramatischen Revolution, deren Wegbereiterin die Gründungsintendantin Elizabeth LeCompte war.

»Dann beginnen die Dinge um dich herum sich zu verändern,« erzählt mir LeCompte. »Plötzlich ist überall Prada. Aber wir bekommen ihre alten Klamotten und zerschneiden sie. Ich gehe auch immer noch runter in die Canal Street um Rohre und Plastik einzusammeln. Für mich sind das alles Rohstoffe, ich bewerte das gar nicht.«

Die Wooster-Group-Darstellerin Kate Valk fügt hinzu: »Man muss das Ganze auch ökonomisch betrachten. Damit etwas stattfinden kann, muss es dafür einen Markt geben. Viele können es sich momentan nicht leisten, so zu arbeiten wie wir, die Zeit dafür aufzubringen und dafür einen Ort so lange zu haben, wie sie ihn benötigen. Sie bekommen das Geld dafür nicht zusammen, weil das, was sie machen, nicht als ein vermarktungsfähiges Produkt mit perspektivischer Wertsteigerung angesehen wird.«

The Wooster Group ist weiterhin ein Fixpunkt in der New Yorker Szene, gehört aber zu einer zunehmend seltener werdenden Spezies. Ihr Durchhaltevermögen und ihre Einzigartigkeit verweisen auf die künstlerischen Produktionsbedingungen in der amerikanischen Metropole – sie steht exemplarisch für New Yorks Talent und dynamische Kraft, aber auch für das Ausmaß, in welchem Marktkräfte die künstlerische Avantgarde gefährden. Wenn man sich mit amerikanischen Theatermacher_innen unterhält, kommt man schnell auf die Frage der Wirtschaftlichkeit zu sprechen. Ein rasanter Anstieg der Grundstückspreise hat zu einer teilweisen Verödung von Manhattan geführt, das zu einem Raster aus CVS-Apotheken und JP Morgan-Chase Bankfilialen geworden ist. Steigende Mieten bedeuten, dass sich Theater verkaufen muss, und kommerzielles Theater kann das leisten. Der Broadway erstrahlt mit Werbung für Musicals, und für extrem selten gewordene experimentelle Arbeiten braucht man eine_n Schauspieler_in mit hohem Bekanntheitsgrad, eine temporeiche lineare Handlung und das Versprechen einer kurzen Vorstellung. Unterdessen flüchten die begabten Nachwuchsschauspieler_innen und –regisseur_innen in die Welt der Streaming-Anbieter und deren ganz anderen Wettbewerbsdruck.

Es spricht für The Wooster Group, dass sie schon so lange Bestand hat und immer noch starke Eindrücke auf internationalen Bühnen hinterlässt. Der Einfluss, der von Elizabeth LeCompte und The Wooster Group seit über fünf Jahrzehnten ausgeht, ist kaum zu überschätzen, was sich auch darin widerspiegelt, dass die Schaubühne die Gruppe als Artist in Focus zum internationalen Theaterfestival FIND 2023 eingeladen hat. Ich frage Elizabeth LeCompte, wie sie es schaffen, nach wie vor zu bestehen und erfolgreich zu sein.

Elizabeth LeCompte erzählt mir: »Wir haben eins richtig gemacht: Wir haben 1973 den Raum für 80.000 Dollar gekauft.«

Kate Valk fügt hinzu: »Heutzutage gibt es sehr viel Druck. Die Immobiliensteuern steigen. Die Nachbarschaft ist für gewerbliche Zwecke restrukturiert worden. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir die »Garage« haben.«

LeCompte erläutert: »Deshalb können wir das machen, was wir tun. Ansonsten müsste man ein bekanntes Stück aufführen, damit sie einem das Geld dafür geben. Aber das ist eine heikle Situation. Die Zuschauer_innen wollen dann das ganze Drum und Dran sehen, was sie im Fernsehen und im Kino gezeigt bekommen.«

Zunehmende Spezialisierungen in der Ausbildung von Theaterleuten in Amerika haben auch ihre Auswirkungen: »Heutzutage gehen alle aufs College. Und jede_r studiert ein ganz spezielles Fach, zum Beispiel Fernsehschauspiel, um einen Job im Fernsehen zu bekommen. Oder Regie, um am Broadway zu landen...«

Valk wirft entsetzt ein: »Sie studieren experimentelles Theater!«

»Als ich zum Theater kam,« erinnert sich LeCompte, »war ich bildende Künstlerin. Die Leute experimentierten in den verschiedensten Kunstformen. Unsere frühen Stücke waren eine Art Aktionskunst.«

Das Gespräch bringt uns auf die zwei Bühnenstücke, die beim FIND 2023 aufgeführt werden. Das erste ist »A PINK CHAIR (In Place of a Fake Antique)« und basiert auf den Arbeiten des polnischen bildenden Künstlers und Theatermachers Tadeusz Kantor, der im Nachklang des Stalinismus nach einem Parisaufenthalt die Theatergruppe »Cricot 2« gründete.

LeCompte erzählt mir: »Es gab vieles an Kantor, was uns fremd war. Die Art, wie in seinen Stücken Sprache verwendet wurde – der heilige Ernst, mit dem die Inszenierungen betrieben wurden.«

Valk sagt: »Es hat eine Weile gedauert, bis wir seinen Humor verstanden haben.«

»Aber in der Übersetzung haben wir ihn dann entdeckt, zusammen mit seiner Tochter,« fügt LeCompte hinzu. »Ich meinte: Ich muss mich zusammen mit jemand anderem damit befassen. Holt mir seine Tochter her! Und sie war tatsächlich eine große Hilfe.«

»Dorota [Krakowska] nahm uns mit auf eine Reise, die den Geist ihres Vaters wieder heraufbeschwören sollte,« führt Valk weiter aus. »Statt einfach nur eine Hommage an einen männlichen Künstler zu produzieren, hatten wir mit der Tochter, die ihren Vater sucht, einen Anknüpfungspunkt.«

»Man bietet mir ständig Geld dafür an, dass ich Stücke über große männliche Künstler inszeniere,« lacht LeCompte. »Das ist echt witzig. Dann muss ich immer einen Weg finden das so umzusetzen, dass ich mich auf irgendeine komische Art damit identifizieren kann. Dorota war auch eine Außenstehende, die nicht von Kantors Theaterkompanie akzeptiert wurde, zum Teil weil sie ihrem großartigen Vater so nahe stand. Ich habe mich dann gar nicht so sehr mit Kantor identifiziert als vielmehr mit der gesamten Kompanie und deren Beziehung zu Kantor. Als Regisseurin erkenne ich mich aber auf beiden Seiten dieser Geschichte wieder.«

Valk erläutert: »Das Stück von ihm, das im Mittelpunkt unserer Inszenierung steht, ist »Ich kehre hierher nie mehr zurück«. Es ist eins seiner letzten Stücke, aber das erste, in dem er selbst auftrat. Alle Figuren seiner vorigen Stücke konfrontieren ihn darin, mit Bedürfnissen oder Sehnsüchten. Es ist seine Rückschau auf sein gesamtes Werk.«

Ich lenke das Gespräch wieder auf den »heiligen Ernst« der mitteleuropäischen Theatertradition und frage, wie sich die Sicht auf Kantor ändert, wenn das Material in die Hände einer New Yorker Theaterkompanie fällt. Ich merke an, dass es in der kontinental-europäischen Tradition zu oft eine bleierne Erwartungshaltung dahingehend gibt, dass ein Stück humorlos sein muss um ernst genommen zu werden.

»Ich kann einfach nicht anders als lustig zu sein, das ist Teil meiner Persönlichkeit,« sagt LeCompte. »Das gilt für uns alle: Wir sind Amerikaner_innen; Humor und Ironie machen einen großen Teil unseres Lebens aus. Diesen Urtrieb, diesen vererbten Instinkt, bringen wir in unsere Arbeit mit ein. Ich denke, wir beherrschen das Komische ganz gut.«

Valk sagt: »Unser Humor ist ziemlich selbstbezüglich. Es ist auch ein irgendwie kindlich verspielter, ordinärer Humor vermischt mit hochklassigem, vermischt mit einer Art Ernsthaftigkeit, die darauf hindeutet, dass wir nicht vorhaben, uns selbst allzu ernst zu nehmen.«

LeCompte fügt hinzu: »Ich habe gestern Abend den Rosenkavalier an der Metropolitan Opera gesehen, das war wahnsinnig lustig. Das ist der gleiche Humor, den wir bei Kantor entdeckt haben. Wir haben seine Ironie entdeckt. Seine als offenkundig prophetisch verstandenen Aussagen waren voller ironischem Humor. Das war für uns fantastisch.«

Neben zahlreichen Filmen präsentiert The Wooster Group auch noch ein zweites Theaterstück beim Festival, »NAYATT SCHOOL REDUX«, das auf einer Inszenierung von LeCompte aus dem Jahr 1978 basiert, in welcher der berühmte Monologschauspieler Spalding Gray in einer seiner frühen Rollen zu sehen war.

Grays eigene Geschichte ist eine tragische, und es lohnt sich, vor dem Besuch dieser Inszenierung einen Blick darauf zu werfen: Seinen Mutter beging 1967 Selbstmord; sein eigener folgte 2004, als er sich in einer depressiven Phase von der Staten-Island-Fähre stürzte. Ich vermute, dass das Wiederaufgreifen einer Inszenierung in Abwesenheit ihres Hauptdarstellers und eines Gründungsmitglieds kein einfaches Unterfangen war.

Aber LeCompte erzählt mir: »Ob es sehr schwierig war? Ich habe es nicht als problematisch in Erinnerung. Ich war damit beschäftigt, einen Weg zu finden, das Stück zu präsentieren, Probleme zu lösen, und das war von den schmerzhaften Erinnerungen weit entfernt. Ich habe mich wieder erinnert, wie wunderbar das Stück ist, dass ihm etwas Fröhliches innewohnt, auch für uns.«

Valk merkt an: »Liz ist nicht sentimental.«

LeCompte stellt klar: »Ich bin nostalgisch, nicht sentimental.«

Valk erläutert: »Ich fand es gut, ein wenig in Nostalgie zu schwelgen, über die Zeit zu reden, in der ich zu The Wooster Group gekommen bin, und das hat mir dabei geholfen, Spaldings Rolle in dieser Inszenierung auszufüllen. Ich finde es faszinierend, wie lange das nun her ist, dass wir daran gearbeitet haben: wenn man sich überlegt, was Liz und die Gruppe in den späten 1970er Jahren gemacht haben. Zurückblickend waren das wilde Zeiten. Mein Gott, haben wir das wirklich gemacht?«

LeCompte entgegnet: »Es gibt auch gewisse Überlagerungen. Manchmal ist das alte Stück nur gerade so hinter dem neuen Stück sichtbar, manchmal gar nicht. Manchmal ist es heimlich da. Wie bei einer alten Musikkassette, bei der man im Hintergrund die früheren Aufnahmen vage mithören kann.«