Camus’ »Fremden« träumen
von Joseph Pearson
27. Oktober 2016
Im Probenraum zu Albert Camus’ »Der Fremde« steht ein großer Tisch, an dem das Team sich zu Besprechungen niederlässt. Heute sieht es hier aus wie nach einer langen nächtlichen Arbeitssitzung: der Tisch ist mit Snacks übersäht, Stapel von Schoko-Reiswaffeln, Orangenschalen, rohe Möhren, Süßigkeiten, halbleere Mandeltüten. Zahlreiche Ausgaben von Camus’ Werken liegen aufgeklappt und mit Eselsohren versehen herum – »Der Mythos des Sisyphus« (1942), »Der Fremde« (1942) und seine Tagebücher (1935-51).
Jetzt sind die Stühle leer. Die Schauspieler sind auf der Bühne, um das Ergebnis ihrer Überlegungen konkret werden zu lassen. Felix Römer, Bernardo Arias Porras und Iris Becher stehen im gänzlich schwarzen Bühnenraum, der wie ein von LEDs beleuchteter Käfig erscheint. Jeder von ihnen spielt abwechselnd Mersault, den Angeklagten. Die Stimme des Mannes, dem der Prozess gemacht wird, »weil er beim Begräbnis seiner Mutter nicht geweint hat«, wird zum Chor. Das Zuhören ist wie das Belauschen eines Gesprächs, vielleicht des Gesprächs am Arbeitstisch. Oder wie ein Selbstgespräch des Autors, der sich vorstellt, er rede mit dem Protagonisten seines Werks.
Der österreichische Regisseur Philipp Preuss – mit wuscheligen Haaren und einem Talent für Schlagfertigkeit – erzählt mir: »Die Schauspieler bilden verschiedene Teile von Mersaults Identität ab. Camus schreibt in seinen Tagebüchern, dass er sich Mersault als eine Mischung aus zwei Männern und einer Frau vorgestellt hat, und einer dieser Männer sei er selbst. Ich mag es, mich selbst in die Situation des Autors zu bringen – mit diesen drei Schauspielern auf der Bühne – aus seiner Perspektive etwas zu erfinden, als wäre ich in seinem Kopf. Camus hat sich alles am Schreibtisch ausgedacht, und wir können dasselbe auf der Bühne tun«.
»Vielleicht zeigen die Schauspieler den Autor, wie dieser sein eigenes Buch erträumt«, schlage ich vor.
Preuss mag die Idee: »Das würde Freiheit beim Erfinden bedeuten«.
Während der Proben sitzt Preuss sehr nah an der Bühne. Er interagiert mit den Schauspielern, indem er auf ihre Textzeilen antwortet, mit einsilbigen Ausrufen wie »Ja!« oder »Was?«, als würde er selbst mitspielen, als wären seine Antworten Teil des Skripts. Er erklärt: »Ich bin wie ein Echo, das Feedback gibt.« Im Laufe der Proben – während die Schauspieler die Texte immer mehr zu ihren eigenen machen – rutscht Preuss immer weiter von der Bühne weg, das Echo wird leiser, bis er dann am Tag der Premiere in der letzten Reihe sitzt.
Ich höre auf den Ton im Hintergrund: ein schneller und lauter werdender Herzschlag.
Preuss dirigiert den Rhythmus mit einer Hand. Es ist, wie er sagt, »die Sprache eines Traums«; selbst im Sounddesign nutzt er unterschwellige Techniken. Auch der Herzschlag deutet auf die instinkthafte Seite des Camus’schen Protagonisten hin.
Mersault ist ein nicht sonderlich wohlhabender Mann aus der französischen Kolonie Algerien, der seine Mutter verliert und dem es nicht gelingt, über ihren Tod ein öffentlich akzeptables Mindestmaß an Bedauern zu zeigen. Dieses Versäumnis während ihres Begräbnisses wird in den Vordergrund gerückt, als ihm wegen Mordes an einem Araber der Prozess gemacht wird. In dem rassistischen Gerichtshof hätte ein weißer Franzose sicher auf mildernde Umstände plädieren können, doch die Zeugen bescheinigen ihm »Herzlosigkeit«.
»Er wäre nicht zum Tode verurteilt worden, wenn er ein schlechtes Gewissen gezeigt hätte oder religiös gewesen wäre. Das Gericht fordert seine Beichte, damit er wieder Teil des Systems werden kann, aber Mersault sagt nein«, erklärt Preuss.
Heutzutage ist man versucht, Mersault eine Asperger-artige Störung zu attestieren; er ist vielleicht einfach nicht in der Lage, Empathie oder Bedauern zu zeigen. Aber in der Diskussion mit Preuss stellt sich heraus, dass Mersault – wenn überhaupt – einem Tier ähnelt. Er wird eher von instinktiven Elementen wie Sonne, Hitze, Lärm, Hunger, Sex oder Müdigkeit beeinflusst als von moralischen Bedenken oder religiösem Anstand.
Preuss meint: »Das Absurde ist, dass wir alle Sterben müssen, wir aber nicht wissen warum, und dass und das niemand erklären kann. Also haben wir Dinge wie Religion, Kunst, oder ein Leben nach dem Tod erfunden, die uns den Tod erklären sollen.
Das Absurde ist, mit all diesen Erfindungen zu leben, obwohl man verstanden hat, dass wir uns in einem kalten Universum befinden und unsere Existenz keinen Sinn ergibt. Und wenn man ohne diese Erfindungen der Menschheit lebt – was bleibt dann noch?«
»Die wahre Entdeckung für mich war es zu verstehen, dass Camus’ Existenzialismus lebensbejahend ist. Die Leute denken immer, er wäre kalt und gleichgültig, aber Camus beschreibt ein Leben, dass nur im Moment gelebt wird, wie die französischen Situationisten. Es ist ein Leben ohne Ideologie, ohne Politik, Religion oder Moral. Mersault reagiert wie ein Tier. Und für ein Tier – obwohl wir natürlich nicht wissen, was Tiere denken – gibt es vermutlich keine Vorstellung vom Tod. Mersault reagiert: er möchte schwimmen gehen, seine Freundin treffen, essen, das Leben genießen. Er ist nicht gleichgültig, aber er verkauft seine Emotionen nicht als Ideologie: als Ehe, Liebe oder Moral.«
Preuss fährt fort und kommt auf die Lacan’sche Psychoanalyse zu sprechen: »mit dem ›Realen‹ fühlt man den Tod, und das ist die Verbindung zum Existenzialismus«.
Ich frage: »Wo zeigt sich das ›Reale‹ in Camus’ Roman?«
Und Preuss antwortet: »Es ist die Sonne. Es ist heiß, und wenn man am Strand ist und es 40 Grad sind, kann man nicht denken. Man fühlt die Natur, aber als etwas Abstraktes. Es ist das ›Reale‹, das Grauen«.
»Der Fremde« wurde während des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Vielleicht sagte Camus deswegen, seine Nation wäre die französische Sprache und nicht Frankreich, oder Algerien. Wie Preuss bemerkt: »Camus war gegen Nationen«. Aber was bedeutet es, »Der Fremde« im 21. Jahrhundert zu lesen? Das Opfer des Protagonisten hat eine eindeutige ethnische Identität, die heutzutage besonders politisch aufgeladen ist. Er ist Araber, der Kolonialisierte, und es wird keine Reue über seinen Tod gezeigt. (Dieses kolonialistische Problem wurde in dem preisgekrönten Buch »Der Fall Mersault – eine Gegendarstellung« von Kamel Daoud 2015 erörtert. Das Buch untersucht den Fall aus der Perspektive der Familie des Opfers.)
»Es ist erstaunlich, dass Mersault kein Mitleid für sein Opfer ausdrückt, dass er gar nicht an ihm interessiert ist. Aber vielleicht muss er, um der »Fremde« zu sein, fremd bleiben. Hätte er einen Namen, eine Identität, dann wäre er nicht länger der Fremde. In diesem Fall würde Mersault vielleicht eine politisch befriedigendere Figur werden. Aber vielleicht wäre das nicht so ehrlich, und würde nicht zu der Frage führen: was ist es, dass uns dazu bringt, vor fremden Menschen Angst zu haben?«, erzählt Preuss.
Mersaults Charakter wird im Roman sehr geschickt über seine Beobachtungen und kleinen Handlungen übermittelt. Ich frage Preuss, ob es schwierig ist, ein Stück auf die Bühne zu bringen, bei dem es so viel um das Innenleben geht.
Er antwortet, dass manche Szenen an sich sehr dramatisch sind: das Begräbnis, die Verhandlung. Sie verwandeln das Publikum in Trauergäste oder Beobachter im Gerichtsaal. Aber um Spannung zu erzeugen, hat Preuss sich entschieden, die Chronologie des Romans zu verändern. Er zitiert Godard, der sagt: »Eine Geschichte hat immer einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber nicht in dieser Reihenfolge«.
»Um auf das Ende zu sprechen zu kommen«, sage ich, »die letzten und berühmtesten Zeilen des Romans empfinde ich als paradox.«
Mersault ist in der Todeszelle und hat – in den engen Grenzen seiner Zelle – verstanden, dass die Welt nicht von einer metaphysischen moralischen Autorität gelenkt wird. Die Figur sinnt nach: »Ich öffnete mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt. Als ich spürte, wie ähnlich sie mir war, wie brüderlich letzten Endes, habe ich gefühlt, dass ich glücklich gewesen war und dass ich es noch war«. Die »Vollziehung« dieser Gleichgültigkeit ist, letztlich, ein Verlangen: »Damit sich alles erfüllte, damit ich mich weniger allein fühlte, brauchte ich nur zu wünschen, dass am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer da sein würden und dass sie mich mit Schreien des Hasses empfangen.« (Übersetzung von Uli Aumüller).
Aber warum sollte er sich um das Urteil der Meute kümmern, wenn er doch die Gleichgültigkeit der Welt wahrhaftig akzeptiert hat? Oder ist Mersault zu einem Anti-Propheten geworden, die Verbindung zwischen den neutralen Sternen und der Scheinheiligkeit der Gesellschaft?
Preuss erwidert: »Die Frage ist: braucht er am Ende ein Publikum? Wir sollten uns vor Augen führen, dass es der intensivste Moment ist, zu sterben, wenn die Leute dich hassen. Er braucht einen guten letzten Moment, einen intensiven Moment.«
»Einen theatralischen Moment?«, frage ich.
»Als er zum Tode verurteilt wird, sagt Mersault, dass die Gesellschaft ihn endlich respektiert. Es ist absurd. Er ist dann am meisten am Leben, wenn die Menschen zu ihm sagen: jetzt bist du menschlich, weil du zum Tode verurteilt wurdest. Jetzt respektieren wir dich«.
Aus dem Englischen von Franziska Lantermann