Der Missing Link in Marius von Mayenburgs »Die Affen«

von Joseph Pearson

20. Februar 2020

Es wird ein ungewöhnlicher Besuch auf der Probebühne der Schaubühne werden, das stelle ich sehr schnell fest, als ich die Probenhalle zu Marius von Mayenburgs Stück »Die Affen« betrete, mit dem das FIND-Festival 2020 eröffnet wird. Robert Beyer kauert in affenartiger Haltung auf einem Gartentisch. Anscheinend haben die Schauspieler_innen am Tag zuvor mit einem professionellen Coach die Bewegungsabläufe von Affen trainiert. Das erklärt, warum sie klettern und springen, die Hände über den Boden schleifen, hin und her wippen. Jenny König seufzt: »Nach dem Workshop mit dem Bewegungstrainer hat mir alles weh getan, als ich Orlando gespielt habe«, (ich stelle mir schmunzelnd die Virginia-Woolf-Produktion vor, die plötzlich eine ganz andere Gestalt annimmt) Hier huschen Mark Waschke und Genija Rykova über Felsen, um etwas zu holen, das wie ein Schokoladenpudding aussieht, der in einem Grill versteckt ist. Ein großer Spiegel reflektiert den aufkeimenden Atavismus.

Eine Skulptur hängt über der Bühne. Ist es ein Planet? Eine Insel aus Müll, der sich im Ozean gesammelt hat? Die Schauspieler_innen toben wild darunter herum und scheinen sich von der Trümmerwolke nicht bedroht zu fühlen.

»Das Bühnenbild war Sébastien Dupoueys unmittelbare Reaktion auf den Text«, erzählt mir von Mayenburg. »Wir haben dem Objekt schon viele Namen gegeben, aber keiner bleibt haften. Was aber gut ist, glaube ich. Es war schon eine Wolke, ein Raumschiff, ein U-Boot, ein Ei, eine Kapsel und ein Auge. Es hat eine dunkle und bedrohliche Seite und gleichzeitig eine Spur von Ironie und Humor. Für mich repräsentiert es die Welt des Stücks.«

Die Schauspieler_innen werden Ganzkörper-Perücken tragen, man sieht den Körper darunter durchscheinen. So wirkt es, als kämen die Haare direkt aus der Haut, wie Fell. Es sind Menschen im Zustand der Transformation.

»Wie kam es zu dieser Idee von Menschen, die zu Affen werden?«, frage ich von Mayenburg.

Er antwortet: »Tatsächlich kam mir die Idee bereits vor längerer Zeit. In einer frühen Fassung eines meiner ersten Stücke gab es die Geschichte einer Frau, die einen Affen zur Welt bringt. Ich war fasziniert von dieser Konfrontation von Natur und Zivilisation innerhalb einer Familie. Ich habe den Text damals aus verschiedenen Gründen nicht veröffentlicht. Durch das aktuelle Gefühl, dass die Welt am Rand einer Katastrophe steht, hat sich meine Perspektive auf die Idee verändert, sie hatte plötzlich ein anderes Potential, einen neuen Resonanzraum. Dazu kam noch etwas anderes: Ich habe in Frankfurt eine Produktion gemacht, in der es eine Videosequenz mit Affen gab. Wir wollten dafür einen kurzen Testdreh mit zwei Schauspielern im Affenkostüm machen. Das endete damit, dass wir einen durchgängigen 45 Minuten-Take gedreht haben, weil sich im Raum während der Improvisation ein fast schon magisches Gefühl von Ruhe ausgebreitet hat. Es war bezaubernd, und es hätte sich falsch angefühlt zu unterbrechen. Die Schauspieler meinten danach, man sollte das als Therapie anbieten. Es macht was mit Kopf und Körper, wenn man sich verhält und denkt wie ein Affe. Da entsteht eine Form von Freiheit. Als ich jetzt diese Idee vom Affen in einer scheinbar zivilisierten Umgebung wieder aufgegriffen habe, dachte ich, dass der Schritt, zum Affen zu werden, eine Entscheidung sein sollte, und kein Unfall. Ich wollte, dass jemand sagt: Lasst uns umkehren, machen wir die Evolution rückgängig, kehren wir zu einem Zustand zurück, als die Menschen noch Teil der Natur waren. Auf der einen Seite sind wir das natürlich sowieso, wir können der Natur nicht entkommen. Auf der anderen Seite befinden wir uns im Krieg mit der Natur, und die Natur schlägt zurück, gerade, wenn die Menschheit denkt, dass sie die Schlacht gewonnen hat. Meine Figuren sehnen sich nach einem Zustand, in dem Mensch und Natur im Einklang sind.«

»Ich war vor kurzem im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen und habe Ötzi besucht, die 5000 Jahre alte Mumie eines Mannes, der aus dem Gletscher gezogen wurde.«, erzähle ich von Mayenburg. »All seine Besitztümer wären verrottet, wenn sie nicht im Eis konserviert worden wären. Er kommt uns primitiv vor, aber die Menschen haben damals der Umwelt weniger geschadet als heute. Das stellt unsere Vorstellungen von Fortschritt in Frage …«

 »Ja, bis in ein paar Jahren müssen wir zwangsläufig eine neue Art zu leben gefunden haben. Oder eine alte!«, antwortet der Autor und Regisseur. »Vielleicht müssen wir in unserem Umgang mit der Natur zurück zu einer Art Ötzi-Stil. Wir betrachten Materialien wie Plastik oder Kunstfasern als anorganisch, aber tatsächlich stammen sie aus der Natur. Es ist unsere spezielle Art die Ausgangsmaterialien zu verarbeiten, die sie synthetisch oder künstlich macht. Es ist ein sehr charakteristischer Unterschied zwischen Affen und Menschen: Affen benutzen Werkzeuge, sie planen im Voraus, sie denken, sie haben komplexe soziale Strukturen, sie töten sich gegenseitig und rotten sogar andere Arten aus. Aber sie verwenden kein Erdöl, um neue Materialien herzustellen. Deshalb geht es in diesem Stück auch um Öl. Es ist die Grundlage für Plastik und Benzin. Wenn man es verbrennt, zerstört es die Natur und beschleunigt den Klimawandel. Um Öl werden die modernen Kriege geführt, und es ist die entscheidende Waffe im menschlichen Kampf gegen die Natur. Mich fasziniert, dass es aus den Überresten organischen Lebens auf der Erde besteht. Wir kämpfen um die Leichen der Vergangenheit. Es ist, als würden wir sie aus ihren Gräbern pumpen und die Totenruhe stören.«

Ich denke an seine Stücke »Feuergesicht« und »Stück Plastik« und frage: »Du nutzt wieder die Familienkonstellation um deine Themen zu verhandeln. Aber dieses Mal machst du es etwas anders?«

»Ein Unterschied, den ich benennen kann, ist, dass ich dieses Mal nicht das Große im Kleinen suche. Ich versuche eher, die Themen direkt anzusprechen. In anderen Stücken, wenn ich Fragen stelle – zum Beispiel nach Identität oder deutscher Geschichte – habe ich meistens eine kleine Geschichte gesucht, die das große Thema enthält. Hier übernehmen die Darstellerinnen und Darsteller eine Vielzahl von Rollen, nicht nur in der Familie, sondern auch im Beruf, in der Gesellschaft. Sie haben absichtlich eher vage Jobbeschreibungen und verschwimmende Persönlichkeiten. Es geht mehr um das, was sie sagen, und weniger um ihre Biografien oder Identitäten.«

Von Mayenburg fährt fort: »Als ich das Stück geschrieben habe, habe ich versucht, den verschiedenen Stimmen eines Diskurses zu folgen und sie zu extremeren Positionen weiterzuentwickeln. Theater kann ein Verstärker oder Vergrößerungsglas sein, das Dinge sichtbar macht. Ich wollte über die Frustration sprechen, warum wir es nicht schaffen, den Maßstäben unserer eigenen Vernunft gerecht zu werden. Gleichzeitig wollte ich zeigen, dass es lächerlich ist, frustriert zu sein und zu schmollen wie ein Kind, das nicht das bekommt, was es will. Diese generelle Frustration – eine Frustration über die Frustration – ist etwas, das Teil des Stücks werden sollte. Mich interessiert vor allem die Sprache: Wie sprechen wir über diese Dinge, was macht Sprache mit unseren Körpern, wie wird aus Sprache Handlung, und wie erschafft sie Realität? Es wird viel gesprochen in diesem Stück, das Sprechen ist die Handlung. Man könnte sagen, dass die Hauptfigur Rupp sich selbst dazu überredet, zum Affen zu werden.«

»Und was sagt uns Rupps Affenwerdung über das Menschsein? Über den Positivismus? Über den Fortschritt?«

Von Mayenburg erklärt: »In diesem Stück sehen wir Menschen im Übergangsstadium. Sie sind noch keine Affen. Sie sind wie das fehlende Verbindungsstück, der Missing Link. Ich frage mich, ob unsere Grausamkeit an unserer genetischen Nähe zum Affen liegt. Oder sind wir grausam, weil wir Menschen sind? Welcher Anteil bringt uns dazu, Kriege zu führen? Schimpansen töten ebenfalls, essen Fleisch, führen Kriege. Sie haben Geschichte. Die zentrale Frage ist: Ist die Natur gesund und wir sind krank, wenn wir die Schönheit der Natur zerstören? Oder ist die Natur das Grausame, das wir überwinden müssen? Dieser Gedankengang wirft alle möglichen Fragen auf: Wird die Technologie letztendlich die Natur retten, weil sie uns die Ressourcen zur Verfügung stellt, um alle zu ernähren? Oder ist es die Lösung, zu einem einfachen Leben wie dem von Ötzi zurückzukehren? Eines, wo wir noch Tiere töten müssen? Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Aber sie beschäftigen mich.«

Die Affen

von Marius von Mayenburg
Regie: Marius von Mayenburg
Uraufführung
Globe

Premiere am 11. März 2020

Trailer