Ein Spielplatz der Mehrdeutigkeit
Anne-Cécile Vandalems »Die Anderen«

von Joseph Pearson

02. November 2019

Über Anne-Cécile Vandalems neue Produktion »Die Anderen« zu schreiben, stellt mich vor eine besondere Herausforderung, denn im Zentrum des Stücks steht ein Geheimnis, das ich keinesfalls verraten möchte. Um herauszufinden, um was es geht, sollte man sich die Produktion unbedingt selbst ansehen. Und in der Zwischenzeit rate ich dazu, so wenig wie möglich über die Inszenierung zu lesen, um die Überraschung nicht zu verderben. Außer diese Preview natürlich, die – das verspreche ich – nichts verraten wird, nur ein oder zwei kleine Hinweise vielleicht …

Beginnen wir mit dem Bühnenbild. Ein ganzes Gebäude wurde auf die Bühne gebaut, eine drehbare Kulisse mit Fluren und vielen Räumen, die man nur indirekt oder über die Kamera vermittelt sehen kann. Früh am Donnerstag, bevor die Schauspieler_innen mit ihrer Probe beginnen, betrete ich die Räume und fühle mich dabei, als würde ich etwas Verbotenes tun.

Ich durchwandere ein Labyrinth aus klaustrophobisch engen Räumen, mir steigt ein ätzender Geruch in die Nase, meine Jacke streift beinahe eine gerade frisch gestrichene Wand. Das Hotel ist gruselig: voll mit ausgestopften Tiertrophäen und Möbeln aus vergangenen Zeiten. Die Räume sind viel kleiner als ich zuerst angenommen hatte, die Videoaufnahmen lassen sie wesentlich größer erscheinen.

Die Schauspieler_innen werden auf die Bühne gerufen und ich verziehe mich auf meinen Platz im Dunkeln. Ich habe das Glück, der Probe der Schlüsselszene beizuwohnen, die am St. Martinstag stattfindet. Anne-Cécile Vandalem wechselt zwischen Französisch und Englisch, es gibt einen Übersetzer, die Schauspieler_innen antworten in den verschiedensten Sprachen. Es scheint, als wäre ganz Europa auf der Bühne. 

Es ist faszinierend, Vandalem bei der Arbeit zu beobachten. Sie ist omnipräsent und gibt gleichzeitig den Schauspieler_innen mehr Freiraum, als viele andere Regisseur_innen. Wie vereinbart sie diese beiden Gegensätze? Die Schauspieler_innen sind dazu angehalten zu improvisieren und Verantwortung für ihre Charaktere zu übernehmen. Aber Vandalem bleibt ständig wachsam: Vorsichtig holt sie die Spieler_innen zurück, wenn ihre Welt zu irgendeinem Zeitpunkt unharmonisch wird oder wenn auch nur eine kleine Geste nicht passend scheint. Sie reizt sie mit psychologischen Fragen wie: »Was tröstet dich?«, »Was treibt dich in das Trauma?«, »Hast du mehr Macht, wenn du sprichst, oder wenn du schweigst?«, »Was wäre anders, wenn du den Raum jetzt verlassen würdest, anstatt zu bleiben?«, »Ist das der richtige Moment um zu weinen? Was wäre, wenn du damit noch warten würdest?« Ihre Regieführung, die Flexibilität mit Detailgenauigkeit verbindet, demonstriert eine feine Balance zwischen kollaborativem Theatermachen einerseits und der Führung durch die Regie andererseits.

Als die Probe schließlich für die Mittagspause unterbrochen wird, scheint es zwar eine offensichtliche Frage zu sein, die ich stelle: »Warum schaffst du diese Strukturen auf der Bühne, diese Welten aus verborgenen Gängen und Kammern? Warum diese Meta-Realität?« Ich erinnere mich dabei auch an das Kreuzfahrtschiff in ihrer vorherigen Produktion »Arctique« oder das Häuserdorf in »Tristesses«.

Vandalem antwortet: »Wenn ich nichts zu verbergen habe, kann ich auch nichts offenbaren. Dieses Bühnenbild schafft eine neue Dimension für das Stück. Wenn das Set sich dreht, kann es etwas zeigen – oder eben nicht. Man kann sich aussuchen, die Kulisse zu betreten oder nicht. Ich kann entscheiden, einen eigentlich unzugänglichen Raum sichtbar zu machen oder ihn im Verborgenen zu lassen. Eine Szene in der Küche ist für das Publikum so lange unsichtbar, bis ich mich entscheide, sie durch die Kamera zu enthüllen, während ich zur gleichen Zeit etwas zeigen kann, das an einer anderen Stelle passiert. Mit einem Bühnenbild wie diesem zu arbeiten, ist ein Geschenk für den Regisseur. Es ist ein Werkzeug, ein Spielplatz!«

All das kreiert eine Ungewissheit, die notwendig ist für ein Stück, das sich um ein Geheimnis dreht. Mehrdeutigkeit – wie bei den unzugänglichen Räumen, die nur durch die Kamera sichtbar gemacht werden – wird auch durch ästhetische Entscheidungen suggeriert.

Im Hotel »Zum Alten Kontinent« möchte ich keine Nacht verbringen oder Essen gehen (obwohl es eine vergnüglich-makabere Aufgabe wäre, nach dem Stück eine Tripadvisor-Bewertung zu schreiben). Das Hotel wirft mehrere Fragen auf; es ist schwierig, es zu verorten oder zu bestimmen, in welcher Zeit das Stück spielt. Wir sind in der Zukunft, aber die Einrichtung ist eintönig, die Möbel zweckmäßig und abgewohnt. Vandalem bringt unser Bedürfnis nach zeitlicher Einordnung zum Kippen. Unsere Vorstellungen von Fortschritt werden zunichtegemacht: Vielleicht sieht die Zukunft eher wie die Vergangenheit aus, wie ein Second-Hand-Laden.

Ich befrage sie zu dieser zeitlosen Ästhetik. »Wir wollten, dass das Bühnenbild weder alt noch neu wirkt«, sagt sie. »Es ist immer eine Kombination verschiedener Schichten, Stile und Epochen, die miteinander verschmelzen. Auch hier wollen wir nicht zu viel Klarheit,sondern das Publikum in eine Stimmung versetzen, in der es Dinge infrage stellt und überrascht wird. Unsicherheit ist unser Ziel, es ist eine Strategie. Es ist, als hätte man eine Vergangenheit betreten, die man bereits erlebt zu haben meint und in der man etwas Bekanntes zu entdecken scheint. Aber tatsächlich war man nie dort.«

Dieses Gefühl des Geheimnisvollen geht natürlich mit dem Thema einher. Ohne zu viel zu verraten: Das Stück untersucht, wie ein Dorf eine Tragödie durch das Auftauchen eines Fremden erneut durchlebt. Als die angetrunkene Besitzerin des Hotels einen Jungen mit dem Auto anfährt, versteckt sie ihn im Hotel und erregt den Verdacht der anderen Dorfbewohner_innen. Durch den Mikrokosmos der oftmals brutalen Interaktionen im Hotel kommen in uns Fragen zu den Vorstellungen der europäischen Gesellschaft von Zugehörigkeit und Unterschiedlichkeit auf.

Doch Vandalem besteht darauf, dass die Welt auf der Bühne kein Abbild der Realität ist. Letztendlich ist es ein Kunstwerk. »Es ist offensichtlich, dass ich Teil unserer Welt bin und wir sie in der Inszenierung widerspiegeln. Aber es handelt sich nicht um ein Stück über Migration oder den Klimawandel, auch wenn beide Teil der Handlung sind. Für mich ist Fiktion die Bedingung meiner Arbeit. Weil ich wirklich glaube, dass Fiktion der einzige Weg ist, unsere Realität, in der wir feststecken, zu überwinden, die Realität zu lesen, eine Position und eine Meinung zu haben.«

Karolien de Schepper, eine der Bühnenbildner_innen, fügt hinzu: »Stell es dir vor wie das Lesen der Zeitung und wie das dann deine Träume beeinflusst – nicht in einer direkten Art und Weise, sondern verzerrt. Das Politische ist immer da, aber es bleibt wie ein Traum.«

»Und dieser Traum ist eine ganze Welt«, fährt Vandalem fort, »die nicht nur aus den Schauspieler_innen und der Geschichte besteht, sondern auch bildlich, musisch und atmosphärisch ist. Es ist eine Welt, in die wir eintauchen können – eine Welt, die ihre Art von Humor hat, aber die natürlich auch von dem Geheimnis, dem Trauma, das sie enthält, befleckt ist.«

»Und wer sind ›Die Anderen‹?«, frage ich.

Vandalem antwortet, ein wenig mysteriös: »Das ist eine Frage für das Publikum«.

Aus dem Englischen von Katharina Glögl

Die Anderen

von Anne-Cécile Vandalem
Aus dem Französischen von Uli Menke
Regie: Anne-Cécile Vandalem
Uraufführung

Premiere war am 30. November 2019

Trailer