Eine Autopsie der DDR: Der geteilte Himmel von Armin Petras
von Joseph Pearson
28. Dezember 2014
Ich bin auf der Suche nach einer unauffälligen Tür, während ich an einer Reihe stiller Industriehallen vorbeigehe – durch das eine Fenster sehe ich einen Mann, der etwas zusammenschweißt, durch ein anderes einen Zimmermann, der gerade ein Brett zersägt. Beinahe erwarte ich ein Waggonbauwerk für Züge. Stattdessen fällt mein Blick auf zwei sexy, schwarz gekleidete Männer in Skinny Jeans. Sie rauchen und sprechen stumm vor sich hin. Doch, ich bin am richtigen Ort: Bei der Probebühne der Schaubühne, wo ich heute eine Probe von »Der geteilte Himmel«, nach dem gleichnamigen Roman von Christa Wolf aus dem Jahr 1963, besuche.
Ich treffe Armin Petras, der bei dieser ersten Auseinandersetzung mit dem geteilten Deutschland an der Schaubühne überhaupt (!) Regie führt. Mit dem 25. Jahrestag des Mauerfalls ist der Zeitpunkt auch denkbar gut gewählt. »Holt Armin Petras, der ist aus dem Osten!« witzelt der Regisseur später. Ich komme nicht umhin zu denken, dass da etwas Wahres dran ist, denn er scheint die richtigen ›Referenzen‹ zu haben, sich dieses Themas anzunehmen. Vielleicht müsste man Petras‹ Äußerung so umformulieren: Hol Armin Petras, denn er hat die Geschichte vom »Geteilten Himmel« persönlich erlebt; einem Roman, in dem es hauptsächlich um die Frage geht, ob man emigrieren oder bleiben soll.
Petras erklärt: »Ich wurde zum Kleist-, Nazi- und DDR-Spezialisten und es ist nicht einfach, immer in diese Schublade gesteckt zu werden. Andererseits mag ich es auch, weil ich schon eine spezielle Biographie habe: Im Westen geboren zu sein, mit Eltern die dann 1969 nach Ostdeutschland gegangen sind. Das gibt mir eine interessante Perspektive auf die deutsche Geschichte«.
Man könnte versucht sein, einen direkten Vergleich zwischen Petras‹ Geschichte und der von Rita und Manfred in Christa Wolfs Roman über Emigration zu machen; dennoch ist ihre Geschichte nicht ganz die seine. »Ich war kein Kind der 50er und 60er-Jahre (er ist 1964 geboren). Wir sind eine komplett andere Generation als die unserer Eltern. Als ich 17 war, wollte ich das Land verlassen während Christa Wolf mit 17 diese Gesellschaft mitbegründen wollte«.
Tatsächlich verließ Petras den Osten 1988. Erst nach der Wende kehrte er zurück und lebt heute in Brandenburg, worüber er sagt: »Ich würde nirgendwo sonst wohnen wollen. Die Menschen reden nicht, es ist trocken und alles ist sandig. Im Sommer ist es extrem heiß, im Winter ist es kalt. Die Menschen leben, um zu arbeiten. Es ist entweder das Eine oder das Andere, es gibt kein Dazwischen. Das ist es auch, was ich beispielsweise an Kleist so mag. Wenn es keine Unentschiedenheit gibt – dann ist es ein Traum, das ist Sehnsucht«.
Das Produktionsteam probt seit einem Monat und ich habe jetzt die Gelegenheit, einen Durchlauf der letzten Szenen zu sehen. Riesige Wärmelampen entzünden sich an der Decke der Lagerhalle. Darunter, über der Probebühne, wird ein Video der Schauspieler projiziert. Währenddessen schreit sich Petras die Lungen aus dem Leib.
Daran muss man sich etwas gewöhnen: Er ist sehr laut. Das Schreien ist etwas verwirrend. Er wartet nicht erst das Ende der Szene ab, um seine Anmerkungen zu geben, sondern kommentiert laufend – eine ungewöhnliche Strategie für einen Regisseur. »Ich möchte, dass die Schauspieler sofort wissen, was ich denke«, sagt er. Das ist ziemlich effektiv, zumal die Schauspieler nicht zögern, hinter der Plane hervor und zwischen ihrem eigentlichen Text zurückzuschreien. Dann versammeln sich wieder alle um den runden Tisch, und diskutieren noch einmal die Ergebnisse der Probe. Petras nickt, als Jule Böwe, die Rita spielt, Änderungen für ihre Figur vorschlägt. Tilman Strauß spielt Manfred und Kay Bartholomäus Schulze den Arzt. Erst frage ich mich, warum nur so wenige Schauspieler mitspielen, dann wird mir klar, dass Petras glücklicherweise nicht vorhat, den Roman Szene für Szene nachzuspielen. Gestrichen sind die zähen Fabrik-Episoden der wohlbekannten »Brigade«. Diese Version wird ein Kammerspiel mit nur drei Figuren – langsam wird auch der Einfluss Kleists immer klarer.
»Die Idee war, drei symbolische Figuren des Romans auszuwählen«, sagt Petras. »Manfred steht für die Entscheidung in den Westen zu gehen. Rita für den Kampf um den Osten und der Arzt für den Wunsch, beides auszubalancieren. Der Arzt ist, wie bei Ibsen, eine starke bourgeoise Figur. Der Sozialismus ist, glaube ich, genauso Teil der bourgeoisen Kultur«.
Beim Lesen des Romans empfand ich die eher undifferenziert und unantastbar erscheinenden Figuren als schwierig. Petras meint darauf, dass ich zu viel Faulkner gelesen hätte und in meinem angelsächsischen Wunsch nach Subjektivität gefangen wäre. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht an diese Art von Distanznahme, die von Brecht und seinen Anhängern praktiziert wurde, gewöhnt. Aber die Dramaturgin Maja Zade fügt hinzu, dass Christa Wolf »über sich selbst schreiben wollte, um dadurch eine Distanz zu sich selbst zu schaffen«.
Versucht sich Petras an einem ähnlichen Verfremdungs-Effekt? Das wäre überraschend, denn er ist eher als Romantiker unter den Theatermachern bekannt. Zade hatte mir bereits im Vorfeld erzählt, dass sie jemanden für das Stück suchten, der es ganz unzynisch angehen würde. »Das mag vielleicht albern klingen, aber das ist bei deutschen Regisseuren gar nicht so üblich«.
Petras hilft uns, daraus eine Synthese zu formulieren und mich interessiert, was das auf der Bühne bedeutet: »Im Theater folge ich, wie Christa Wolf, einer eher Brecht’schen Tradition. Aber beim Schreiben bin ich wie Remarque, gehöre also zu denen, die schlechte Krimis und Liebesgeschichten schreiben. Ich würde sagen, dass dieses Stück eine Mischung aus Brecht und Remarque ist«. Vielleicht ist seine deutlich jüngere und attraktivere Figur von Manfred, im Vergleich zu Wolf’s trockenem Frauenverachter, ein Hinweis darauf. Zum Glück, denke ich. Zade stimmt zu: »Wir versuchen damit zu arbeiten und beide Aspekte mit einzubeziehen: Auf der einen Seite hat er seine Leidenschaft, die Chemie, und auf der anderen liebt er Rita wirklich und ist eigentlich kein egoistischer Mistkerl«.
Wie wird die Bühne also aussehen? Wie werden sie mit der zentralen Metapher des Himmels umgehen? Ich fühle mich an den Moment im Roman erinnert, wo Rita Manfred, den karriereorientierten Chemiker, endlich besucht. Und zwar in einem Westberlin, kaum wiederzuerkennen für jeden, der schon einmal da war (eine drückend heiße Vorhölle, klaustrophobisch und ohne Grünflächen). Manfred steht, umgeben von grellen Werbetafeln zwischen verwelkten Bäumen, auf einer Verkehrsinsel. Rita dagegen schaut in den Himmel, wo das himmlische Versprechen des sozialistischen Triumphes aufsteigt, die Sputnik als Symbol der siegreichen sozialistischen Bemühungen. Manfred meint, der Himmel könne sie nicht trennen, aber Rita glaubt nicht daran. Der Himmel teilt sie im Geiste.
Petras lacht: »Es wird sicher keine Sterne an der Wand geben! Das ist nicht meine Art. Ich kann nur sagen, dass ich an das Spiel und an den Text glaube. Es ist wichtig, ab und an ein Bild, eine Überraschung für den Zuschauer parat zu haben. Das war auch die Grundidee für unser Bühnenbild: es einfach zu halten. Die Bühne wird die Zuschauer von vier Seiten umgeben, es ist wie ein Operationssaal … ein Raum, in den man sich, im Gegensatz zu einem konventionellen Theaterraum, hineinbegibt und sich als Zuschauer der Inszenierung zugehörig fühlt«.
Ein Operationssaal? Die Frage nach Krankheit ist in Petras Inszenierung zentral und so wird auch schnell klar, warum er ausgerechnet den Arzt aus den vielen Figuren des Romans ausgewählt hat, um das Dreiergespann im Stück zu komplettieren. In der Tat wirkt die Herangehensweise des Kammerspiels zunehmend wissenschaftlich: Ich denke da an die Szene, in der Manfred ein Reagenzglas über die Flamme hält und Rita sich über die blaue Flüssigkeit lehnt. »Du solltest immer blau tragen«, sagt er. »Kobaltblau«. Ja, naturwissenschaftlich. Die schlangenähnliche Bühne umschlingt die Zuschauer, die den Platz des Tisches einnehmen, der normalerweise für die Leiche reserviert ist.
Petras erzählt mir, dass sie monatelang über Ritas Krankheit, an der sie nach ihrer Rückkehr in die DDR leidet, nachgedacht haben . »Die Krankheit als Fluchtweg ist ein Motiv in Christa Wolfs Werk: Wie man mit der Gesellschaft kämpft, dann in die Krise stürzt und sich dann im Krankenhaus davon erholen muss. Unsere Entscheidung für den Arzt als Figur hat sich in Gesprächen mit Gerhard Wolf bestätigt und auch die Idee, dass Christa Wolf selbst aufgrund von Krisen immer wieder längere Zeit im Krankenhaus verbracht hat. Es ist fast unheimlich, dass wir das Textbuch im Sommer geschrieben haben, als wir noch nichts von diesen Fakten wussten. Ich bin nicht Kassandra, aber als Autor hatte ich an gewissen Stellen dieses bestimmte Gefühl: hier ist Blut, hiersind Knochen«.
Eine reduzierte Produktion, wenige Figuren, eine naturwissenschaftliche Perspektive mit der Krankheit als zentrales Thema … das scheint mir die geeignete Linse zu sein, um auf einen Beweiskörper wie den »geteilten Himmel« zu schauen, bereit für die Autopsie, für eine distanzierte historische Befragung der DDR.
Was gibt es noch zu sehen, wenn Petras sein Mikroskop scharf stellt? Was denken wir über Wolfs komplexes Verhältnis zum Staatsapparat, zur Stasi (bei der sie für kurze Zeit als Informantin tätig war)? Können wir den »geteilten Himmel« auf eine Moralgeschichte des Glaubens an den Sozialismus reduzieren, für den sich die bekehrte Rita mit ihrer Rückkehr in die DDR zu Recht entscheidet (eine Entscheidung, die nach 1961 keine mehr ist)?
Ich möchte nun eine Frage stellen, die mich schaudern lässt. Ich hoffe, dass sie Petras nicht in den falschen Hals bekommt. Ich kann mir vorstellen, wie Journalisten eine solche Produktion auffassen werden: Sie werden wissen wollen, welches ›Statement‹ Petras – als ein aus dem Osten kommender Regisseur, 25 Jahre nach dem Mauerfall – über die verschwundene DDR abgeben wird. Sie werden ein Urteil wollen. Ich frage ihn: »Wie gehst du damit um?«
Petras schaut mich an, zuckt zusammen – er hat sich offensichtlich Gedanken über diesen Blickwinkel der Presse gemacht – und sagt: »Ich war letztens bei einer Diskussionsveranstaltung über Theater, wo es darum ging, wie man die DDR heute auf der Bühne darstellen kann. Ich bin konservativ, weil ich das Material für sich selbst sprechen lassen will. Aber gleichzeitig müssen wir uns fragen, wie sich die Figuren in jeder einzelnen Szene verhalten. In dieser Hinsicht möchte ich politisch korrekt sein, auch wenn ich diese Phrase hasse, weil sie für mich etwas anderes bedeutet, als das was Andere darunter verstehen könnten«.
»Ich hoffe, dass die Leute aus der Inszenierung rausgehen und nicht sagen können, wer recht hatte, Manfred oder Rita. Es wäre wichtiger zu fragen, in welche politischen Konflikte wir heute involviert sind. Leben wir heute korrekt? Die Leute sollen sich nicht bloß fragen, wie es in der DDR gewesen ist, weil sie genauso, wie beispielsweise Spartacus, Geschichte ist. Wir müssen uns fragen, welchen Kampf wir jetzt gerade führen und auf welcher Seite wir stehen. Und wir müssen auch verstehen – ich als älterer Mann meiner Zeit tue das – dass dieser momentane Kampf einmal vorbei sein und genauso Geschichte sein wird. Und wir müssen uns fragen, wie man danach weiterlebt«.
Diese historische Frage wird im Stück direkt gestellt, weil Petras Szenen basierend auf Texten von Christa Wolf, hinzugefügt hat, die nach 1989 spielen und die im Roman so nicht vorkommen. Er lässt die Figuren wieder aufeinandertreffen. Obwohl ich sehr neugierig bin, was diese Szenen angeht, schweigen sich der Regisseur und die Dramaturgin darüber aus. Da werden wir die Premiere abwarten müssen.
Petras Wunsch, distanziert und wissenschaftlich zu bleiben und das Material für sich selbst sprechen zu lassen, hat bei mir einen starken Eindruck hinterlassen. Aber war Wolf selbst auch so distanziert? Wie findet Petras den Roman wirklich? Denkt er, dass es einfach ein Propagandawerk war? Oder ein regimekritisches Werk? Wie bewertet Christa Wolf die Entscheidung der Protagonistin, in den Osten zurückzukehren?
Ritas Entscheidung sollte – wie auch ihr Dozent am Lehrerseminar, Ernst Schwarzenbach im Roman erklärt – eine exemplarische sein, die auf die nackte Wahrheit des Sozialismus verweist; das ist der entscheidende Vorteil. Aber die Romanautorin macht es ihren Leser_innen nicht so leicht. Rita antwortet Schwarzenbach »verängstigt«: »Sie lesen zuviel in meine Geschichte hinein«. In diesem einen Satz zeigt sich der anspruchsvolle ideologische und rhetorische Kampf.
Was für eine Moral hat eine Geschichte wie »Der geteilte Himmel«, wenn die Priesterin der sozialistischen Wahrheit nach ihrer Rückkehr aus dem Westen versucht, sich das Leben zu nehmen (was in Konrad Wolfs ideologisch korrekterem Film von 1964 deutlich abgeschwächt wird)? Was für eine Moral hat eine Geschichte, deren Handlung von der Genesung der Protagonistin in einer Klinik gerahmt wird? Ist Wolf eine raffinierte Propagandistin, die gerade genug Systemkritik einbaut, um den noch nicht Bekehrten von der sozialistischen Sache zu überzeugen? Oder ist sie eine genial-subtile Gegnerin des Regimes?
Petras fasst seine Interpretation ihrer Haltung folgendermaßen zusammen: »Sie ›schützt‹ ihren Zweifel. Das war die Grundidee vom sozialistischen Realismus: die Probleme und den Feind aufzuzeigen und dann darzustellen, wie sich diese Probleme lösen lassen. Ich würde sagen, dass Christa Wolf bis 1962, 63, 64 zu 80% mit der sozialistischen Sache einverstanden war. Es war für unsere Produktion wichtig, gerade diesen Roman statt einem ihrer anderen zu verwenden, weil er der letzte war, in dem sie mit dem Strom der Bevölkerung ging und in einer direkten Verbindung zu ihr stand. Später hat sie konstant gegen die Partei gekämpft«.
Anscheinend haben die Zensoren wenig Druck auf Wolf ausgeübt, als sie den»geteilten Himmel« schrieb. Das Produktionsteam erfuhr das vom Witwer Gerhard Wolf persönlich, als sie ihn in seiner Pankower Wohnung besuchten, um das Stück zu besprechen. Zade erzählt mir: »Wir fragten den Ehemann, ob es irgendwelche Probleme mit der Zensur gegeben habe, was er verneinte, obwohl es Probleme hätte geben können. Aber als der Film herauskam, war er so erfolgreich, dass er den Roman schützte. Ich glaube, sie war eine überzeugte Anhängerin. Ich glaube nicht, dass sie unter Druck stand. Sie hatte eine weniger komplizierte Beziehung zu ihrer Ideologie, als sie das Buch schrieb. Zu jenem Zeitpunkt war sie freier zu schreiben, was sie wollte«.
»Trotzdem ist der Text zweideutig«, sagt Petras und geht damit gegen die übliche Lesart und Auffassung in der Gesellschaft an, die das Buch entweder als DDR-Propaganda oder als Samizdat des Kalten Krieges auffasst. Insbesondere eine zeitgenössische Kritik aus den 60er-Jahren im Spiegelärgert ihn.
Kopfschüttelnd sagt er: »Die Kritiker haben das Buch seinerzeit als Propagandawerk verrissen. Ich bin aber ganz deiner Meinung. Ich glaube, dass diese Art von Literatur, gerade weil sie aus verschiedenen Perspektiven gelesen werden kann, sehr interessant ist«.
Petras lehnt sich nach vorne: »Das ist mein größtes Problem: Dass es um zwei Menschen geht, die ins Leben starten und die ein ganzes Leben wollten, ein Leben zusammen mit ihrer Gesellschaft, in ihrer Arbeit. Ich möchte kein Stück entwickeln, das sagt, das war die DDR: Es war meistens schlecht, aber manchmal auch ein bisschen gut. Das ist nicht mein Thema«.
Aus dem Englischen von Giulia Baldelli
Der geteilte Himmel
von Christa Wolf
Bühnenfassung von Armin Petras nach Motiven der gleichnamigen Erzählung
Regie: Armin Petras
Premiere war am 13. Januar 2015
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