Medeas Kinderen, Foto: Michiel Devijver 
Medeas Kinderen, Foto: Michiel Devijver 
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Morde auf der Bühne
Milo Rau im Gespräch mit Joseph Pearson über »Medea's Kinderen« click here for English translation on our website

von Joseph Pearson

28. März 2025

Einer der bekanntesten Tropen des Theaters im antiken Griechenland besteht darin, dass Gewalt nur abseits der Bühne stattfindet. Wir bekommen nicht gezeigt, wie Ödipus sich die Augen aussticht. Agamemnons Badewanne existiert nur im Technikraum, und niemand aus dem Publikum muss mit ansehen, wie Medea ihre Kinder umbringt. Stattdessen berichten Boten von diesen Gräueltaten. Es wird zwar auf der Bühne ab und zu gestorben, aber das tatsächliche Töten von Menschen oder Tieren wird in griechischen Tragödien oder Komödien nie gezeigt. Selbst das Schlagen eines Menschen wird vermieden. Dabei spielten sowohl religiöse Überlegungen eine Rolle – es könnte Dionysos, zu dessen Ehren die Festspiele veranstaltet wurden, erzürnen – als auch überlieferte Sitten und Bräuche. Es hatte aber höchstwahrscheinlich auch ästhetische Gründe: Indem man die Gewalttaten nicht zeigte, zwang man die Zuschauer_innen dazu, sich das Grauen selbst bildhaft vorstellen.

Der Regisseur Milo Rau stellt eine namhafte Größe im weltlichen Theater unserer Zeit dar, und das nicht nur an der Schaubühne – wo er für seine Stücke »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs«, »Lenin« und »Everywoman« bekannt ist – sondern auch auf der europäischen Bühne, vom Festival in Avignon bis hin zur Biennale in Venedig. Milo Rau erzählt mir, dass er mit klassischer Literatur groß geworden ist, und wie er im Griechisch- und Lateinunterricht an einem Schweizer Gymnasium Pindar übersetzte, und »Die Troerinnen« von Euripides. Als junger Regisseur inszenierte er 2005 ein Stück mit dem Titel »Montana«, das auf Euripides’ Drama »Die Bakchen« basierte. Und im vergangenen Jahr arbeitete er zusammen mit dem NTGent an einem »All Greeks«–Festival, bei dem alle 32 noch erhaltenen griechischen Tragödien kostenlos an öffentlichen Plätzen in Gent aufgeführt wurden.

Zum Thema Gewalt erzählt er mir: »Ich zeige sehr gerne alles«, wobei er darauf verweist, wie sehr sich die ausdrückliche Darstellung von Gewalt in der deutschen Theaterlandschaft allein während der Zeit seiner eigenen beruflichen Laufbahn verändert hat: »Als ich zum Theater kam, gab es die brechtsche Regel, dass man nichts zeigt, nichts abbildet. Meine Generation, oder die etwas ältere um Thomas Ostermeier, stellte das dann in Frage. Als die Leute Marius von Mayenburgs Stück ›Feuergesicht‹ [1998] sahen, sagten sie: ›Oh wow, können wir das echt machen?‹ Somit kam das Thema des direkten Realismus auf die Bühne. Und seit den Nullerjahren hat sich das stetig weiterentwickelt.«

Einer der Aspekte, die Rau als höchst bereichernd beschreibt im Umgang mit Material aus der Antike, ist die Möglichkeit des Rekontextualisierens. Die Geschichten finden ihre Entsprechungen und adäquate Erzählformen in der Gegenwart. Rau erläutert das folgendermaßen: »Wenn ich Elfriede Jelinek inszeniere, ist es unmöglich, sie in einen neuen Kontext zu stellen. Sie füllt den ganzen Raum aus. Die Griechen dagegen sind wie ein Comicstrip. Das funktioniert genauso wie mit der Bibel: Man sagt nur ein Wort und weiß ganz genau, wo man ist. Das Kollektivbewusstsein ist schon da. Und ich mag das. Man muss nur ›Medea‹ sagen und die Leute reagieren sofort auf irgendeine Art, beispielsweise mit ›sie ist eine Hexe‹. Es ist gar nicht nötig, dass man die ganze Geschichte noch einmal erzählt. Was mich an den Klassikern reizt, ist die Möglichkeit, sich mit Geschichten zu beschäftigen, die den Leuten schon bekannt sind, und sich aktiv an diesem kollektiven Erzählen zu beteiligen.«

Die Rekontextualisierung dieses an der Schaubühne gezeigten Stücks stammt aus Belgien – ein echter Kriminalfall aus der heutigen Zeit, bei dem es um eine Marokkanerin geht, die – entfremdet von ihrem Ehemann – zusammen mit ihren fünf Kindern lebt. Viele Themen, die in Euripides’ »Medea« traditionell Beachtung finden – die Bedeutung der Tatsache, dass es sich bei Medea um eine Ausländerin im antiken Korinth handelt, oder die Frage, ob es sich bei ihrer Rebellion gegen ihren eidbrüchigen Ehemann Jason um eine Form von Feminismus handelt – stehen bei Rau jedoch nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ihm geht es vielmehr um die Perspektive ihrer Kinder, aus der heraus er die Geschichte erzählt.

»Genauso wie bei ›Antigone im Amazonas‹ [2023] mache ich es jetzt bei ›Medea’s Kinderen‹. Das Stück richtet die Aufmerksamkeit auf Darsteller, die Frauen spielen, Heldinnen, und einen weiblichen Chor. Das war schon außergewöhnlich für die damalige Zeit. Aber ich wollte den Fokus auf das Unbekannte richten: Es geschieht eine ganze Menge, aber Kinder kommen nicht zu Wort. Man hört sie nur aus dem Palast heraus schreien, wenn sie ermordet werden. Das ist das einzige Mal, dass im griechischen Theater Kinder zu hören sind. Also habe ich mir überlegt: Warum nicht mit den Kindern reden?«

Mit Kindern zu arbeiten bringt gewisse Herausforderungen und Kontroversen mit sich, insbesondere wenn der Stoff so sehr mit Gewalt verbunden ist wie die Geschichte Medeas. Rau ist bereits für seine Inszenierung ›Five Easy Pieces‹ (2016) bekannt, ein Stück mit Kindern über das Thema Pädophilie. Wie viel Gewalt sollten Kinder im Theater ausgesetzt werden, und erleben sie als Darsteller*innen dasselbe, was wir als Zuschauer*innen erleben?

Rau erzählt mir: »Das Publikum sieht die lieben Kinder, die Familie, das nette Häuschen, aber in Wirklichkeit ist das bürgerliche Wohnzimmer der brutalste Ort in unserer Gesellschaft. Einen Krieg überlebt man vielleicht – das ist die Realität. Aber die meisten Menschen werden zuhause umgebracht. Und ich zeige das ganz deutlich, indem ich mit einer Kamera in das Haus hinein gehe – das ist der Palast – um dort hineinzublicken. Und außerdem erwachen die Kinder wieder zum Leben und denken darüber nach, was passiert ist. Das Stück verläuft verkehrt herum. Ich glaube, dass jede Generation in eine Posthistoire, eine nachgeschichtliche Situation hineingeboren wird, in eine Welt im Nachgespräch, in dem die Tatsachen erklärt werden. Uns wird versprochen, dass nichts geschehen wird, aber dann passiert es doch wieder. Und darin besteht die eigentliche Gewalt: dass wir nicht einmal wissen, wie wir dem entkommen können. Das ist die soziologische, philosophische Ebene dessen, was dargestellt wird.«

Es mag eine gewisse Strategie dahinter stecken, »Medea’s Kinderen« mit einem Nachgespräch beginnen zu lassen – ein Satyrspiel zum falschen Zeitpunkt – bevor zurückgespult wird und wir die Tragödie sehen, von der die Kinder erzählen. Dieses Nachgespräch beleuchtet die Erfahrungen einiger der Kinder mit dem Stück, die nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, was das Publikum vermuten könnte.

Rau erläutert: »Ich habe mir gedacht, dass wir eine Meta-Betrachtung über die Tragödie an sich brauchen, mittels der sogenannten ›Weisheit der Kinder‹. Wenn man mit Kindern arbeitet, entsteht eine Art positiver Verfremdungseffekt. Er bewirkt, dass man sein eigenes Verhalten durch einen absurden Spiegel betrachtet. Das Stück ist nicht ganz unumstritten – ähnlich wie ›Five Easy Pieces‹ - weil die Kinder in übermäßig brutalen Szenen auftreten. Theater mit Kindern ist zu häufig so angedacht: Lasst sie spielen, lasst sie schöne und lustige Sachen machen, lasst uns an ihrer Poesie Freude haben. Aber ich habe mich schon immer mehr für soziale und körperliche Gewalt als Grenzerfahrung interessiert. Und um die Wahrheit zu sagen, die Kinder lieben es, diese blutigen Slasher-Momente zu spielen. Für das Publikum ist das hart, aber für die Kinder sind es deren Lieblingsszenen.« 

Medea’s Kinderen

(Gent)
von Milo Rau / NTGent
Konzept und Regie: Milo Rau
Text: Milo Rau, Kaatje De Geest & Ensemble

Premiere war am 04. April 2025

Trailer