Hallelujah Neuruppin! »fontane.200 an der Schaubühne«
von Joseph Pearson
21. Dezember 2017
Wie Rainald Grebe in seinem Lied »Brandenburg« singt, ist in Berlin jede Menge los, aber in Brandenburg soll es wieder Wölfe geben. In Berlin gibt es Chanel, die Galeries Lafayette und das Hotel Adlon; in Brandenburg gibt es Lidl, Autohändler und im Pool badende Bisamratten. Brandenburg ist natürlich auch die Heimat von Potsdams Schlössern und Sammlungen, dennoch wird es oft nur im Schatten Berlins wahrgenommen, der glitzernden Hauptstadt (»Hallelujah Berlin!«). Brandenburg wird viel zu oft als Gegensatz zu Berlin definiert, oder zumindest im Verhältnis zur Metropole, und zu selten für sich selbst beurteilt. Das Umland leidet unter den Vergleichen; oft wird es als langweilig übergangen. Es ist also keine Kleinigkeit, dass die Brandenburger Gemeinde Neuruppin, nordöstlich von Berlin, 30.000 Einwohner, eine so bedeutende literarische Figur wie Theodor Fontane (1819–1898) für sich beanspruchen kann.
Fontane – internationale Persönlichkeit, anglophil, Kriegsreporter und Romanautor (»Effi Briest« 1895, »Der Stechlin« 1897 u.a.) – wird als einer der wichtigsten Vertreter des poetischen Realismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts angesehen. Als Sohn eines Apothekers in Neuruppin geboren, flüchtete er als Teenager ins 70 Kilometer entfernte Berlin (damals eine Tagesreise), genau wie es auch heute vor allem junge Menschen aus Brandenburg nach Berlin zieht. Neuruppin kann seine Einwohnerzahlen seit Jahren relativ konstant halten, im Gegensatz zu den vielen Dörfern ringsum, deren Bevölkerung sich immer weiter dezimiert.
2019 würde Fontane seinen 200. Geburtstag feiern. Neuruppin feiert diesen Jahrestag mit einer Investition in das 1,84 Millionen-teure Projekt »fontane.200«. Es gibt einen Online-Countdown, Fontane-Festspiele, Forschungsarbeiten, Ausstellungen. Um die Feierlichkeiten in 2019 einzuleiten, bringt Kabarettist und Sänger Rainald Grebe schon ein Jahr vorher die Produktion »fontane.200: Einblicke in die Vorbereitungen des Jubiläums des zweihundertsten Geburtstags Theodor Fontanes im Jahr 2019« auf die Bühne. Eine Collage der Arbeiten Fontanes, ihrer heutigen Rezeption und, wie der Titel schon sagt, den »Vorbereitungen des Jubiläums des zweihundertsten Geburtstags Theodor Fontanes im Jahr 2019«.
Grebe ist kein Unbekannter an der Schaubühne: 2015 feierte sein Stück »Westberlin« hier Premiere. Wie Grebe formuliert: »Ich habe die Stadt abgehandelt, jetzt muss ich zurück auf Land.«
Besonders Fontanes frühe Arbeiten preisen die flache, sandige, Seen-durchzogene Landschaft Brandenburgs. Seine »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« sind mehr als bloß poetische und realistische Schilderungen der von Fontane durchwanderten Landschaften. Als Fontane 1858 in Schottland weilte, war er beeindruckt, wie sehr die dortige Landschaft und deren Beschreibung in der Literatur in der Lage war, ein Gefühl von Geschichte und Kultur heraufzubeschwören. Dieser Romantizismus veranlasste ihn, auch Brandenburg in dieser Form zu beschreiben: »Geh’ hin und zeig’ es!«.
Als ich die Probebühne zu »fontane.200« betrete, sehe ich mich gleich einem Bild dieser »Wanderungen« gegenüber. Zwei niedrige Vorhänge sind quer über die Bühne gezogen. Hinter ihnen tauchen immer wieder die Köpfe verschiedener Schauspieler auf. Dann steigt eine Pappfigur, ein ausgeschnittenes Bild eines Wanderers mit Rucksack und Wanderstab, dahinter empor. Er beginnt zu klettern und im Hintergrund ziehen Bilder der Brandenburgischen Landschaft vorüber. Nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch aus der heutigen Zeit: Schafe, Hühner, ein Mann auf einem Traktor, ein Auto (vielleicht aus Berlin) mit Fahrrädern auf dem Dach, auf dem Weg zum See, ein Windrad. Grebe betritt die Bühne und geht hinter den Vorhang, um mit Schauspieler Damir Avdic zu sprechen, dem es anscheinend große Freude bereitet, mit seiner Puppe zu spielen. In einer andere Szene sehe ich Florian Anderer dabei zu, wie er eine gigantische Treppe erklimmt, bis zur Spitze einer (gezeichneten) Birke, von wo aus er beschriebene Seiten herunterfallen lässt wie Blätter.
»Ich habe dabei an das Theatrum Mundi gedacht«, sagt Grebe, als er über die Szene mit dem Wanderer spricht, »die Welt im Kleinen. Gott ist der große Ingenieur der Ideen und wir Menschen sind nur Automaten.«
Grebe nutzt diverse Mittel, um seine Collage der Werke Fontanes vor dem Hintergrund von Brandenburg und seiner Geschichte auszubreiten. Eine ist die Schnitttechnik (Cut-Up), in den 1950ern durch William S. Burroughs bekannt geworden, bei der Text so auseinandergerissen und dann neu zusammengesetzt wird, dass er nicht länger linear ist, aber neue Sichtweisen auf das verwendete Material eröffnet. Die Herausforderung dabei ist natürlich, Fontanes manchmal sehr konstruierte Sprache und seinen poetischen Realismus visuell oder durch Bewegungen auf die Bühne zu übertragen. Grebe erzählt mir, dass er »Fontane zu Musik vertonen« möchte. Und tatsächlich ist Musik, wie auch schon in Grebes »Westberlin«, das verbindende Element innerhalb der Produktion. Auch Komponist Jens-Karsten Stoll ist wieder mit von der Partie.
Eine weitere Herausforderung des Stücks ist, dass jede Beschwörung von Heimat in Brandenburg, auch wenn sie sich auf einen deutschen Autoren und eine deutsche Landschaft bezieht, von den Rechten vereinnahmt werden kann. Die Alternative für Deutschland (AfD), die in Brandenburg zuletzt über 20% der Stimmen auf sich vereinen konnte, spricht davon, historische deutsche Literaten promoten zu wollen, um das nationalistische Projekt voranzutreiben. Diese Nationalstolz-Erklärungen sind in Brandenburg besonders kompliziert – da die Region das Herz des alten Preußen war. Die Alliierten haben Preußen 1947 offiziell abgeschafft, da (um das Dekret zu zitieren) »Preußen von jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen« war – ebenjene Impulse, die sich heute in der AfD finden.
Die Rechte sollte allerdings zweimal überlegen, bevor sie Fontane als Maskottchen küren. Fontane mag regionale Wurzeln haben, aber er war auch international und kosmopolitisch. Grebe kennt sich gut in der Debatte aus und sagt: »Ich denke was Fontane betrifft an den Begriff ›Glokal‹ (eine Mischung aus Global und lokal).« Tatsächlich wäre es snobistisch nur denjenigen Internationalität zuzugestehen, die die Städte feiern; Fontane zeigt, dass das Gegenteil der Fall sein kann.
Grebe hält die historischen Probleme nicht auf Distanz. Der geschichtliche Kontext ist vielmehr eine Art Filter, durch den man Fontanes Werk betrachten kann. Grebe erzählt: »Ich interessiere mich für die Nachkriegszeit und dafür, wie es in Brandenburg während der Zeit des DDR-Sozialismus zuging. Und dann gibt es ja heutzutage auch Spannungen mit diesem Erbe, da einige adlige Familien in ihre ehemaligen Besitztümer zurückkehren, die ihnen nun zurückgegeben worden sind. Eine sehr nützliche Quelle war für mich das Buch »Das Ruppiner Tagebuch« von Franz Fühmann, das in den 60ern in der DDR geschrieben wurde, dort dann aber nicht veröffentlich werden durfte und erst 2005 erschienen ist. Selbst Fontane war sich seiner geschichtlichen Position bewusst. Er hat den Wandel der Landschaften durch die Industrialisierung auch aus der historischen Perspektive betrachtet. Wir versuchen, Fontane in die Gegenwart zu bringen und – « er lacht, »in welchem Stück kriegt man sonst den Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 zu sehen?«
Was »fontane.200: Einblicke in die Vorbereitungen des Jubiläums des zweihundertsten Geburtstags Theodor Fontanes im Jahr 2019« verspricht, ist eine Idee des Ortes zu vermitteln. Und Grebe spricht mit einer gewissen Nostalgie, wenn er die Landschaften und das kulturelle Erbe der Region beschreibt, in der auch er teilweise lebt.
»Es hat einen speziellen Reiz, durch diese Landschaft zu fahren und Antenne Brandenburg zu hören. Das ist der fröhliche Sound der 80er und 90er. Antenne Brandenburg ist ganz anders als die Radiosender in Berlin. Man kann es in der ganzen Region hören. Es gibt mehr Schlager als auf den Sendern in der Hauptstadt. Und wenn es kalt und regnerisch ist, dann spielen sie plötzlich ein Lied über Spanien. Oder einen Song wie »If I could turn back time«. Brandenburg, und diese Produktion, haben eben einiges mit dem Gestern zu tun.
Aus dem Englischen von Franziska Lantermann.