Ankommen bei »Q« Queering the stage in HE? SHE? ME! FREE.
von Joseph Pearson
04. Dezember 2018
To queer – Jemanden irreführen, etwas verderben oder verpfuschen, vereiteln, durchkreuzen, vermasseln, etwas oder jemanden aus dem Gleichgewicht, ja aus einer selbstverständlichen, hierarchisierenden, binären Ordnung bringen. To queer – ein Aufbegehren gegen Festlegungen und für Mehrdeutigkeit.
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Auf der Bühne stimmt Schauspielerin Eva Meckbach ihre Gitarre. Diese Handlung – die Saite auf den richtigen Ton zu bringen – scheint in einer Produktion über Gender-Performance eine zweite Bedeutung zu transportieren. Kann man Gender »stimmen«?
Patrick Wengenroth nennt seine Produktion »HE? SHE? ME! FREE.« einen »Gender Jam«. Tatsächlich vermittelt die überdachte Bühne im Studio der Schaubühne das Gefühl, sich in einer Art Garage, auf dem Dachboden oder im Keller zu befinden, wo man sich mit Freunden zum Jammen trifft. Das gemeinsame Singen und Spielen schafft eine Intimität, die Improvisation ermöglicht und die Leute einander näherbringt. Genau die richtige Atmosphäre für eine Runde »Wahrheit oder Pflicht«, das Teilen von Geheimnissen, um sich über »Gender Trouble« auszutauschen und mit Gender-Fluidität zu experimentieren. Ein »safe space«, um sich mit schwierigen Fragen auseinanderzusetzen: Was bedeutet es, in einer patriarchalen Gesellschaft eine Frau zu sein? Wie ist es, trans zu sein? Wie identifiziert man Machtstrukturen und wie verhält man sich dazu? Warum machen solche Fragen so viele Menschen (und Regierungen) so nervös? Bist du nervös?
Die Schauspieler_innen üben ihre Songs, es geht um »A man’s world«, um Freiheit und Paranoia. »Ich bin ein Spotify-Junkie«, sagt Wengenroth. »Ich höre wahnsinnig viel Musik und in all meinen Stücken spielt Musik eine große Rolle. Vielleicht wird die Hälfte des Abends nur aus Musik bestehen. Als feststand, dass es diese Produktion geben würde, habe ich eine Playlist zum Thema angelegt. Das war vor einem Jahr – jetzt beinhaltet sie 210 Songs. Ich habe sie den Schauspieler_innen gezeigt, die dann noch mehr Songs vorgeschlagen haben, die sie passend fanden. Zum Schluss ist es ein Mix geworden, die Hälfte kommt von mir, die Hälfte vom Ensemble. Ich habe nicht auf meine Songs bestanden, schließlich wird es immer besser, wenn die Menschen auf der Bühne eine Beziehung zu dem haben, was sie tun.«
Diese Beschreibung macht schon deutlich, wie Wengenroth arbeitet. In Adidas-Trainingshosen und Kapuzenpulli, langen Haaren, die zum Pferdeschwanz gebunden sind und lila lackierten Nägeln lehnt er sich in seinem Stuhl zurück und erzählt: »Ich finde, dass das Produkt, was man am Ende auf die Bühne bringt und der Entwicklungsprozess des Stücks mit der Arbeitsatmosphäre übereinstimmen müssen. Ich nenne mich auch nicht Regisseur, sondern ›Realisator‹. Das ist wichtig für mich, schließlich entsteht das Stück in gemeinsamer Arbeit. Ich bin außerdem selbst als Performer auf der Bühne. Ich sitze nicht nur davor und gebe Anweisungen.«
Dass er selbst oft Teil seiner Inszenierungen ist, gibt Wengenroth außerdem die Möglichkeit, direkt mitzuerleben, wie sich seine Stücke mit der Zeit entwickeln.
»Manchmal ist es traurig, Regisseur zu sein: Man erlebt die Premiere, aber dann ist man nicht mehr dabei. Die Produktion rutscht ins Repertoire und man selbst hat gar nichts mehr damit zu tun. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich immer versuche, selbst auch auf der Bühne zu stehen. Nicht um Kontrolle auszuüben, sondern um ein Teil davon zu sein. Unser Stück über zeitgenössischen Feminismus, »thisisitgirl«, ist jetzt fünf Jahre alt. Ich habe die Möglichkeit, das Stück immer wieder an die aktuellen Debatten anzupassen und zum Beispiel auch Entwicklungen wie #Metoo mit einzubeziehen. Damit bleibt die Inszenierung zeitgenössisch und wirkt nicht überholt.«
Auf der Bühne summt Ruth Rosenfeld gerade die letzten Töne eines Songs und spielt dabei Teile eines viralen Videos nach, das sich mit Hausarbeit beschäftigt … (mehr möchten wir an dieser Stelle nicht verraten). Patrick dreht sich zu den anderen um und sagt: »Jetzt lasst uns lieber auch mal ein paar Texte machen, sonst denkt Joseph, es geht nur um Musik.«
Vor der Bühne befindet sich ein Arbeitstisch mit einem Haufen unterschiedlichster Texte, unter anderem Fritz Riemanns »Grundformen der Angst«, Yukio Mishimas »Confessions of a Mask«, Virginie Despentes »King Kong Theorie« und Judith Butlers Klassiker »Gender Trouble« (»Das Unbehagen der Geschlechter«). Ein sehr breites Feld: von Marxismus über Biologie, Wirtschaftswissenschaften, Biopolitik, Post-Fordismus, Akzelerationismus, Xeno-Feminismus bis Cyberfeminismus.
»Wie arbeitest du mit den Texten?«, frage ich Wengenroth. »Wie gehst du mit dieser unglaublichen Fülle an Literatur um?«
»Wir beginnen mit persönlichen Themen. Wir schreiben sie auf und kombinieren sie dann mit Literatur und theoretischen Texten. Das lustige ist, je näher man auf der Bühne an der Wahrheit bleibt, desto mehr sieht es das Publikum als Fiktion. Wir haben dann außerdem ein Dutzend Songs, die wir mit derselben Anzahl an Texten in Verbindung setzen. Manche Texte werden von allen Schauspieler_innen – wir sind drei „biologische Frauen“ und drei „biologische Männer“ – gesprochen, aber es gibt auch Einzelperformances. Sogar eine Wittgenstein-Nummer, stell dir das mal vor.«
»Und welche der Texte, die sich auf persönliche Erfahrungen beziehen, haben dich am meisten angezogen?«
»Einige Texte sind sehr wichtig für die Produktion. Natürlich Judith Butler, aber auch Paul B. Preciados ›Testo Junkie‹, ein Buch über Biopolitik und die Verwendung von Testosteron eines Frau-zu-Mann-Transsexuellen, der sich selbst ›gender-hacked‹. Oder ›Die Argonauten‹ von Maggie Nelson. Alle Schauspieler_innen haben dieses Buch gelesen, das die romantische Beziehung der Autorin mit dem Künstler Harry Dodge, der selbst gender-fluide lebt, beschreibt. Da werden unsere üblichen Vorstellungen von Liebe und Ehe, Mutterschaft, Schwangerschaft, von Geschlecht und dem Gründen einer Familie auf den Kopf gestellt.«
»Es wird sicher Zuschauer_innen geben, die sich fragen, warum ein Cis-Mann* einen Abend über Gender-Fluidität auf die Bühne bringt«, werfe ich ein.
»Ja, ich bin ein heterosexueller Cis-Mann. Aber wir versuchen, uns dem Material mit wissenschaftlichem Interesse und emotionaler Offenheit zu nähern. Ich weiß nicht wirklich, warum das schlecht sein sollte. Aber lass uns noch weiter denken: Theater an sich ist nichts anderes als das Vortäuschen, jemand zu sein, der man nicht ist, oder? Und wenn ich an die LGBTQIA+-Community denke, dann fühle ich mich vom Q besonders angezogen. Ich fühle mich der queeren Community verbunden.«
»Warum ist das so?«, frage ich.
»Wahrscheinlich, weil ich mich oft in Situationen wiederfinde, die außerhalb dessen liegen, was der Mainstream von mir erwartet, aus ganz trivialen Gründen: Weil ich innerhalb der Familie eine nicht-traditionelle Rolle übernehme, weil ich mich auf der Bühne gerne als Frau verkleide, oder weil ich auch im Alltag gerne Make-up trage. Oder vielleicht geht es auch um etwas anderes. Manchmal, wenn ich nach einer Show nach Hause komme, habe ich noch mein Make-up im Gesicht und gehe damit ins Bett. Wenn ich dann morgens aufwache und meine Kinder zur Schule bringe, habe ich es immer noch drauf. Die anderen Eltern sind dann oft irritiert davon, dass ich Glitzer unter den Augen habe. Sie gucken mich komisch an und fragen: Warum bist du geschminkt? Und – wenn ich will – kann ich dann immer sagen: ›Es ist für ein Theaterstück‹.«
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* Cis-Gender bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht übereinstimmt, dem sie nach der Geburt zugeordnet wurden. Dies trifft auf die meisten Menschen zu.
Aus dem Englischen von Franziska Lantermann
HE? SHE? ME! FREE.
Ein Projekt von Patrick Wengenroth und dem Ensemble
Realisation: Patrick Wengenroth
Studio
Premiere war am 13. Dezember 2018 im Studio
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