Eine Antwort auf das Abstand halten: »Michael Kohlhaas
Von Joseph Pearson
18. November 2020
Ich sehe Schauspieler_innen, die regelmäßig getestet werden, ohne Masken auf der Bühne. Es ist eine Probe von Heinrich von Kleists »Michael Kohlhaas« an der Schaubühne. Sie stehen dicht beieinander, umschlingen sich, teilen die gleiche Luft. Die Videokamera konzentriert sich ganz auf die Gesten. Die Inszenierung spielt mit Intimität und erzeugt so eine Sehnsucht nach anderen Zeiten.
»Berührungen sind für diese Produktion unglaublich wichtig«, sagt mir Regisseur Simon McBurney, »und die Art und Weise, wie die Menschen Berührung wahrnehmen, ist als Folge des Coronavirus natürlich gesteigert«.
»Ich vermisse die Selbstverständlichkeit von Berührungen«, antworte ich.
»Haben wir nicht Glück?«, lächelt Co-Regisseurin Annabel Arden, seine langjährige Mitarbeiterin und Mitbegründerin von Complicité. Sie blickt auf die Bühne: »Es ist uns wichtig zu sagen, wie viel uns das Publikum bedeutet und wie wir das menschliche Bedürfnis geltend machen, uns zu versammeln und gemeinsam zuzuhören«.
An der Schaubühne ist nichts wie sonst: Die Aufführungen im November wurden abgesagt, das öffentliche Café ist nicht in Betrieb und an den Glastüren hängen Schilder mit dem Wort »geschlossen«. Ich habe das Gefühl, in das Gebäude einzubrechen, als ich an den Warnhinweisen und den Desinfektionsmittelspendern vorbeikomme und von den Mitarbeiter_innen beobachtet werde, die die Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln gewährleisten. Die Anzahl der Menschen auf der Probe ist begrenzt. Ich sitze mit einer Atemschutzmaske auf einem Stuhl in der Ecke. Die Produktion arbeitet hart, ohne zu wissen, ob die für Dezember geplante Premiere stattfinden kann. Bereits zum zweiten Mal musste schon die Premiere von Thomas Ostermeiers »Das Leben des Vernon Subutex 1« aufgrund der Pandemie verschoben werden.
Simon McBurney ist an der Schaubühne bereits bekannt. Ich habe ihn zum ersten Mal während des FIND 2015 für seine Stückentwicklung »Amazon Beaming« interviewt. Im Jahr darauf kehrte er zurück, um mit dem Ensemble an Stefan Zweigs »Ungeduld des Herzens« zu arbeiten. Deutschsprachige Literatur ist es nun auch wieder mit Kleist geworden. Zwischen diesen Produktionen gibt es Gemeinsamkeiten: innovatives und feinfühliges Sounddesign (bei »Amazon Beaming« trug das gesamte Publikum Kopfhörer), ein experimenteller Umgang mit den Figuren (die Schauspieler_innen teilen und verwischen Identitäten), eine spielerische Mischung aus szenischer Lesung, Theateraufführung und Videoprojektion.
Das minimale Bühnenbild wird heute von einer riesigen Leinwand hinter der Bühne und zwei kleineren Leinwänden an den Seiten dominiert. Ansonsten sehe ich während dieser Probe nur ein paar Stühle und Requisiten. Angereichert wird die Szene mit der Gestik der Schauspieler_innen und den Projektionen: frühneuzeitliche Porträts von Junkern, den Körpern von Pferden, historische Szenen aus der Welt von Kleists Novelle.
McBurney reflektiert: »Das Bühnenbild spiegelt die Welt von Michael Kohlhaas wider. Wenn er eine Ungerechtigkeit erleidet, wird die Ordnung der Dinge gestört, und seine Welt beginnt, in Fragmente zu zerspringen. Die Strenge des Buches spiegelt sich in der Strenge des Bühnenbilds und in den Bildern der Fragmentierung und des Zerbrechens wider. Indem man alles entfernt, ist alles im Hier und Jetzt. Das ist genau so, wie es in diesem Moment sein muss, in einem Moment der Corona-Pandemie, im Chaos der Welt. Corona verstärkt das Gefühl der Trennung, aber es ist ein Teil der Gesellschaft, in der wir leben. Die meiste Zeit achten wir nicht auf diese Distanzierung, und dann wird uns plötzlich bewusst, wie tief wir voneinander und von der Natur getrennt sind. Die Tatsache, dass die Bühne völlig leer ist, scheint mir auch der Natur dieser Geschichte und der Natur unserer Zeit sehr angemessen zu sein, da wir versuchen, alle möglichen verschiedenen Fragmente zusammenzusetzen und sie zu einem kohärenten Ganzen zu machen«.
Ich frage McBurney was »das Ganze« wohl sein könnte.
Er betrachtet die Zusammenhänge: »Die Geschichte sollte uns, so hoffe ich, in die Zeit von Kleist zurückführen. Kleist selbst springt über 250 Jahre zurück zu Michael Kohlhaas, um zu zeigen, dass wir im Zusammenhang mit der Vergangenheit stehen. Die Vergangenheit ist nicht losgelöst von uns, wir neigen aber dazu, so darüber zu denken. Genauso wie die Natur es nicht ist. Die Geschichte zu erzählen und sie jetzt zu erzählen - die Mittel zu finden, um sie zu erzählen - ist auch ein Akt der Verbindung, sicherlich ein Versuch dazu. Es ist nicht nur eine Möglichkeit, die Geschichte lebendig zu machen, sondern auch den Geist des Mannes zu spüren, der die Geschichte geschrieben hat. Dadurch verbinden wir die heutige Zeit mit dieser Zeit, so wie er die vorangegangene Zeit mit seiner eigenen verbunden hat«.
»Ist die Corona-Pandemie eine Gelegenheit oder ein Moment um nachzudenken, um diese Trennungen zu überwinden?«
»In der Theorie ist es eine Gelegenheit wieder damit zu beginnen. Aber nicht jeder macht das. Wir reden darüber, wieder zur ‘Normalität zurückzukehren’, aber man kann nicht zurück. Zeit und Raum bewegen sich vorwärts, und deshalb können wir nicht rückwärtsgehen. Die Frage ist also, in welche Art ‘Vorwärts’ wir gehen«.
»Michael Kohlhaas«, 1810 von Kleist geschrieben, basiert auf den realen Nöten eines Pferdehändlers aus dem 16. Jahrhundert. Ein Adliger fügt Kohlhaas Unrecht zu, indem er seine Pferde festhält und hungern lässt und seinen Einfluss vor Gericht nutzt, um den Mann daran zu hindern, Gerechtigkeit zu suchen. Nachdem Kohlhaas' Frau in den Streit hineingeraten ist und mit ihrem Leben bezahlt hat, führt der Händler Krieg gegen seine Feinde, brennt deren Besitz und Städte nieder und fordert Gerechtigkeit.
Der Weg von der Novelle des frühen 19. Jahrhunderts bis zur Bühne ist kein geradliniger. Es ist nicht einfach, eine Geschichte auf der Bühne zu erzählen, die in Burgen und Städten, mehrheitlich im frühneuzeitlichen Europa spielt. Aber die Sprache ist überraschender Weise eine noch größere Herausforderung. Liest man »Michael Kohlhaas« auf Deutsch, stellt man fest, wie verzwickt es ist.
Die Autorin Maja Zade, Dramaturgin der Inszenierung, erklärt, dass »die Sprache bei Kohlhaas sehr forensisch und detailliert ist. Es gibt nicht viele Beschreibungen der Motive oder Gefühle der Menschen. Die Sätze haben gewöhnlich mehrere Nebensätze und oft Nebensätze innerhalb von Nebensätzen, und manchmal wechselt ein Satz auf halber Strecke die Richtung und geht einen anderen Weg als am Anfang. Man muss also viel Zeit darauf verwenden, herauszufinden, was der Satz tatsächlich bedeutet, bevor man dann versuchen kann, ihn so zu sprechen, dass er für ein Publikum Sinn ergibt«.
McBurney reflektiert: »Ich fühle mich durch das Werk und die Arbeit mit ihm im Original an der Schaubühne sehr demütig. Kleist verwendet bewusst einen nüchternen, distanzierten Stil, der aber auch eine unglaubliche Geschwindigkeit, Unvermeidlichkeit und Kraft hat. Das wird schon im ersten Satz der ganzen Novelle deutlich:
An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.
»Alles entfaltet sich aus diesem Paradoxon, das in gewisser Weise ein mythisches menschliches Paradoxon ist. Wir können rechtschaffend sein, aber wir sind auch entsetzlich. Alles entfaltet sich aus diesem Paradoxon. Der Stil, mit seinen vielen Nebensätzen und riesigen Hauptsätzen, modelliert die Situationen fast mit Worten. Er verwendet Wörter wie Lehm oder Ziegelsteine oder Baugerüste. Dann müssen wir uns in diese Konstruktion hineinversetzen, anstatt uns vorzustellen, dass wir diese Person sind, weil wir uns mit einer bestimmten Stimme identifizieren, und uns auf verschwommene und emotionale Weise in ihr versenken, weil wir mit ihr sympathisieren. Hier ist es viel anspruchsvoller und strenger und sogar seltsam absurd«.
»Wenn wir über die moralischen Aspekte des Textes nachdenken: Kämpft Kohlhaas für das Allgemeinwohl oder ist er ein Kleinkrimineller? Ist Gewalt ein angemessener Weg nach vorn, wenn der Staat nicht für Gerechtigkeit sorgen kann?«, frage ich.
»Die Frage, wie man es schafft, Gerechtigkeit zu erfahren, ist sehr komplex. Die Grundvoraussetzung ist, dass dieser Mann, Michael Kohlhaas, der voll und ganz an die Gesellschaft glaubt, entdeckt, dass sich die Welt für ihn verändert hat. Alles beginnt sich Stück für Stück aufzulösen. Die Welt ist nicht unbedingt geordnet, sondern ungeordnet. Eine sehr einfache und winzige Unordnung kann letztlich zu einer außergewöhnlichen Unordnung führen. Der Mensch versucht, Ordnung in das Chaos zu bringen. Es gibt etwas, das Gesetz und Gerechtigkeit heißt, und das sind Systeme, an die wir glauben. Aber wir werden ständig daran erinnert, dass es sich dabei um menschliche Konstrukte und nicht um ewige Absolutheiten handelt, die sich, wenn sie einmal gestört sind, vollständig auflösen können. Aus dem Chaos können viele verschiedene Dinge auftauchen: ob es Donald Trump ist oder ISIS oder alle Arten von Extremismus. Was wir für richtig und ausgewogen und möglich halten, wird plötzlich in Frage gestellt. An diesem Punkt sehen wir vielleicht die Grenzen des Menschseins: die Zerbrechlichkeit, die Schwächen, die Tatsache, dass dies alles menschliche Erzählungen sind. Sie sind keine ewig währenden Gesetze«.
»Wie bewerten wir dann seine Reaktion auf diesen Zerfall?«
»Letztlich ist Michael Kohlhaas' Antwort auf Ungerechtigkeit Gewalt. Nur so kann er sich vorstellen, ein Unrecht zu korrigieren. Er kann keine andere Möglichkeit sehen. Er rechtfertigt sie, weil er sich selbst als moralischen Menschen sieht: weil die Gesellschaft ihm nicht erlaubt hat, innerhalb der Gesetze dieser Gesellschaft Gerechtigkeit zu erlangen. Deshalb wird er an diesem Punkt zu einem Ausgestoßenen, und einmal außerhalb der Gesellschaft hat er das moralische Recht zu wählen, wie er sich verhalten will. Nun gibt es eine andere Art, sich zu verhalten. Wenn man das Thema geschlechtsspezifisch behandeln wollte, könnte man sagen, dass dieser Rückgriff auf Gewalt eine grundsätzlich männliche Reaktion ist. Interessant ist, dass es einen anderen Weg gibt: nämlich Widerstand durch Gewaltlosigkeit, wie im Fall von jemandem wie Chelsea Manning, die die Ungerechtigkeit dessen, was geschieht, aufdeckt, dann aber sofort jede Strafe akzeptiert, die damit einhergeht. Aber der Widerstand gegen Ungerechtigkeit ist im Fall von Kohlhaas und Manning gleichermaßen stark«.
»Welche anderen Personen haben dein Narrativ inspiriert? Was bedeuten ihre Reaktionen für unsere Zeit?«
»Jemand wie Edward Snowden, der Ungerechtigkeiten offenlegt. Andere Menschen, die sich Ungerechtigkeiten widersetzen, wie zum Beispiel Ken Saro-Wiwa in Nigeria, der für seine Überzeugungen gestorben ist. Ebenso kann man auf zeitgenössische Persönlichkeiten verweisen, auf Arundhati Roy oder auf Organisationen, die gegen Klimaungerechtigkeit kämpfen wie Extinction Rebellion. All diese Menschen stellen konventionelle Narrative in Frage. Die Antwort des konventionellen Narrativ ist immer wieder, dass es richtige Wege gibt, durch die man gehen muss. Es gibt eine Regierung und man muss den Weg der Regierung gehen. Aber die Frage, die Michael Kohlhaas am Herzen liegt, lautet: Ja, aber wird das etwas ändern? An seinem Beispiel sieht man: Es wird sich nur ändern, wenn ich dafür sorge, dass es sich ändert. Wenn wir die Veränderung sind. Mit anderen Worten: Sei die Veränderung! Wir müssen die Veränderung sein«.
Michael Kohlhaas
von Heinrich von Kleist
In einer Fassung von Simon McBurney, Annabel Arden, Maja Zade und dem Ensemble
Regie: Simon McBurney und Annabel Arden
Premiere war am 1. Juli 2021
Mit dem Aufruf des Videos erklären Sie sich einverstanden, dass Ihre Daten an YouTube übermittelt werden. Mehr dazu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Bei Klick auf die Schaltfläche "Akzeptieren" wird ein Cookie auf Ihrem Computer abgelegt, so dass Sie für die Dauer einer Stunde, diese Meldung nicht mehr angezeigt bekommen.
Pearson’s Preview
Archiv
April 2016
FIND 2016 »Hearing« between the lines
April 2016
FIND 2016 The Voice of the Leader: A Study Part Two of a Conversation with Sanja Mitrović
Februar 2016