


Das Zuhause ins Ausland mitnehmen
Ein Gespräch mit Chagaldak Zamirbekov über »NEST (Уя)«
von Joseph Pearson
12. April 2025
Experimentelles Theater aus dem zentralasiatischen Land Kirgisistan ist eine Rarität, aber eine, die beim FIND 2025 an der Schaubühne präsentiert wird. Ich unterhalte mich mit dem Regisseur Chagaldak Zamirbekov über seine Inszenierung »NEST (Уя)«, die sich mit Fragen zum Thema Zuhause auseinandersetzt. Ich freue mich besonders über das Gespräch, weil Kirgisistan – oder genauer: die Hauptstadt Bischkek – mein Zuhause war, als ich 2024 an einem Bildungsprojekt dort arbeitete.
Zamirbekovs Stück wirft einen Blick in viele Wohnungen in Bischkek und auf die Menschen, die dort leben, und fragt sie, was ihnen wichtig ist. Antworten – sowohl die des Regisseurs als auch die seiner Figuren – gibt es in Form von Themengebieten, von denen hier einige vorgestellt werden:
Zuhause
Die Corona-Pandemie, während der die Ideen zu diesem Stück entstanden, war ein passender Zeitpunkt, um sich über das Konzept des Zuhauses intensiv Gedanken zu machen, denn, so Zamirbekov, »alle waren plötzlich wieder zu Hause«.
Er stellt die Frage: »Wie kommt es, dass wir, wenn wir nicht zu Hause sind, nach Hause wollen? Und dass wir, wenn wie zu Hause sind, unbedingt weggehen wollen?« Der Name des Stücks, »NEST«, entstand aus Überlegungen zu einem »Ort, der dich großzieht, und dann verlässt du ihn. Aber verlässt du ihn wirklich, oder kommst du immer wieder an ihn zurück, um ihn mit neuen Dingen anzureichern? Wie genau sieht diese Beziehung zum Zuhause aus?«
Sprache
Wenn dein Land dein Zuhause ist, was ist dann die Sprache deines Zuhauses? Seine Heimatzunge?
Kirgisistan wurde von Russland erobert, ins Zarenreich integriert, später in die Sowjetunion. 1991 wurde es unabhängig, aber in der Sprachpolitik bleibt die Geschichte der Kolonisierung ein strittiger Punkt.
In welcher Sprache sollten sich die Menschen in Bischkek unterhalten? Russisch ist in der Hauptstadt immer noch eine Lingua franca, obwohl es – anders als die Turksprache Kirgisisch – von Vielen als die Sprache der Unterdrücker gesehen wird.
Zamirbekov erzählt mir, dass diese Gefühle durch die anti-russische Stimmung, die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöst wurde, noch verschlimmert wurden: »Die russische Sprache kam mit der Kolonisierung zu uns. Es hat viele Versuche gegeben, die kirgisische Sprache der russischen gegenüber zu bevorzugen. Aber ich denke, dass wir das Thema inzwischen etwas entspannter angehen, weil wir begriffen haben, dass Russisch, obwohl es aus Russland kommt, auch zu unserer Sprache geworden ist, zu einem Teil unserer Kommunikation. Nichtsdestotrotz gibt es vor allem im Zusammenhang mit Überlegungen zur Dekolonisierung von Seiten junger Menschen und der Regierung Bemühungen, die kirgisische Sprache bevorzugt zu verwenden.«
Ich frage nach der Bühnensprache in Bischkek, und er antwortet, dass beide Sprachen verwendet werden, je nachdem, um welches Theater es sich handelt. Aber unter kosmopolitischen Theaterschaffenden »stellt sich die Frage nach der Sprache nicht sehr häufig«.
Ein Korridor
Für dieses Projekt schlugen die Bühnenbildner*innen Marat Raiymkulov und Malika Umarova vor, das Publikum in einem Korridor zu platzieren, der zu einer Wohnung führt, in der die Handlung stattfindet. Man blickt in sie hinein wie durch eine Camera obscura. Das ergibt einen geschlossenen Raum, in dem viele Dinge passieren können (an einem Punkt in unserer Unterhaltung vergleicht der Regisseur ihn mit einer geschlossenen Jurte, und den verdeckten Blick hinein mit dem durch eine Zeltklappe).
»NEST« setzt sich aus vielen Geschichten zusammen, die von ganz normalen Menschen in Bischkek handeln. Der Regisseur erzählt mir, dass es sich dabei »nicht um besonders überraschende oder weithergeholte Figuren« handelt, sondern um »Personen von nebenan«. Ihre Geschichten werden in ganz gewöhnlichen Wohnungen erzählt.
»Aus etwa dreißig Interviews – in denen ältere Menschen die jüngeren kritisieren, Jugendliche sich im Konflikt mit anderen jungen Leuten befinden; mit Menschen aus verschiedenen Teilen der kirgisischen Gesellschaft oder aus anderen Landesteilen, die aber alle in Bischkek wohnen – haben wir sechs Geschichten ausgewählt, die für uns auf eine bestimmte Art und Weise zusammenhängen.«
Zamirbekov kam sich häufig wie ein Voyeur vor: »Ob man es wollte oder nicht, man fing irgendwann an, Kleinigkeiten darüber wahrzunehmen, wie sie in ihren Räumen bestimmte Dinge tun. Man hört nicht nur ihre Geschichten, sondern versteht sie auch anhand der Entscheidungen, die sie in ihren Räumlichkeiten treffen. Der Korridor in unserem Bühnenbild war wichtig, um das Gefühl zu erhalten, dass man in das Leben anderer Menschen hineinblickt, ein anderes Leben intensiv betrachtet.«
Publikum
Als »NEST« in Moskau aufgeführt wurde, gab es viele kirgisische Einwanderer im Publikum, so dass das Schauspielensemble den Eindruck hatte, dass die Zuschauer*innen viele der im Stück diskutierten Themen verstanden, weil sie mit ihnen vertraut waren. Als »NEST« in Brüssel beim Kunstenfestivaldesarts gezeigt wurde, waren einige Dinge gleich: Der Korridor wurde rekonstruiert. Aber das Publikum wusste hier natürlich viel weniger über Kirgisistan als das Publikum in Moskau.
Ich frage Zamirbekov, wie sie sich auf diese kulturellen und publikumsbezogenen Unterschiede einstellen, und er erklärt mir: »Das Stück verändert sich jedes Mal, es passt sich nicht nur dem jeweiligen Raum an, sondern auch den Menschen, die es sich ansehen.« Improvisation ist eine Möglichkeit damit umzugehen, erläutert er, auch wenn diese auf europäischen Bühnen weniger anwendbar ist, weil das Ensemble aufgrund der Verwendung von Übertiteln stärker an das Textbuch gebunden ist.
»Dabei ist es wichtig, nicht so zu tun, als seien wir daheim in Bischkek. In Brüssel haben wir auch nicht so getan, als wären wir zu Hause. Es ist allen klar, dass wir das nicht sind. Es braucht also neue Wege, mit dem Raum zu interagieren. Wir versuchen, ehrlich zu sein, und erläutern das so: ›Ja, wir kommen aus Bischkek, und dort treten wir in einem Raum auf, der ungefähr so aussieht...‹ Wir sind dann so ehrlich und bauen darauf auf, fügen Monologe hinzu und suchen nach Wegen, eine echte Verbindung zum Publikum auf Augenhöhe herzustellen. Unsere Darstellerin Asylbek kyzy Zere ist dabei eine große Hilfe, weil sie englisch spricht und als Brücke zwischen dem Publikum und dem Ensemble fungiert.«
Exotisierung
Allein der Name »Kirgisistan« und der Umstand, dass viele Menschen im Ausland nicht genau sagen können, wo es liegt, verleihen dem Land etwas Geheimnisvolles, einen Hauch von dem, was Fitzroy Maclean, der britische Autor von Büchern über die ›Stans‹, als ›hinterletzten Winkel‹ bezeichnet. Außerdem gibt es noch das touristische Image von Kirgisistan als Agrarland mit Bergen, Pferden und einer nomadischen Bevölkerung, die in Jurten lebt. (Vielleicht hatte ich dieses Klischee im Hinterkopf, als ich die Theatertruppe fragte, ob es eine spezielle Bedeutung hat, wenn ein Theaterstück zum Thema Zuhause in einem Land inszeniert wird, in dem es eine nomadische Tradition gibt.) Und dann ist da noch das post-sowjetische, industrielle Stereotyp eines armen ›Entwicklungs-‹ Landes, das aus kommunistischen Wohnblöcken besteht. Es mag verlockend sein, diese zentralasiatische Republik in irgendeine dieser (teils gegensätzlichen) Schubladen einzusortieren, man würde damit aber dem Ensemble und den Lebenswelten, die sie im Ausland auf der Bühne präsentieren, einen schlechten Dienst erweisen.
»Wenn wir mit diesem Stück ins Ausland gehen, machen wir uns immer Sorgen, exotisiert zu werden,« führt Zamirbekov weiter aus. »Wir möchten nicht, dass Leute uns ansehen als wären wir in einem Zoo und dabei denken, wie schlecht es doch den Menschen in Kirgisistan geht. Das macht uns jedes Mal nervös, wenn wir uns auf eine Auslandsreise vorbereiten. Dass wir angesehen werden wie Leute aus einem ›Dritte-Welt-Land‹. Natürlich haben wir viele Probleme zu bewältigen. Aber vielleicht sieht das Publikum mehr als das. Oder liegt das Problem möglicherweise bei uns selbst? Diese Angst haben wir. Vielleicht liegt es an uns. Aber ich gebe die Frage immer gern an das Gastgeberland zurück: ›Wie steht’s mit Ihnen? Was gibt es hier bei Ihnen, worüber Sie sich Sorgen machen? Wie gehen Sie mit der Frage nach dem Zuhause um?‹ Ich denke, diese Fragen umzudrehen hilft dabei, eine menschlichere und gleichberechtigtere Verbindung herzustellen.«
Sicherheit
»Ich bekomme häufig Kommentare von Leuten als Reaktion auf das Stück, in denen sie reklamieren: ›In Kirgisistan geht es nicht um dies, sondern um das.‹ Dem möchte ich nur hinzufügen, dass meine Sichtweise eine sehr persönliche ist und es mir nicht darum geht, das Stück zu analysieren und zu erläutern, worum es darin geht. Da gibt es nichts zu erklären.«
Ich erwidere: »Manchmal gibt es einem ein Gefühl von Sicherheit, wenn man sagen kann, dass es in einem Theaterstück um dies oder das geht.«
Zamirbekov antwortet: »Ja, wenn wir eingeladen werden aufzutreten, kann man daran, wie wir angekündigt werden, erkennen, was das Publikum sehen möchte. Aber ich bitte Sie, vorsichtig damit zu sein, worum es in diesem Stück geht. Vielleicht wissen wir es selbst nicht.«
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Mit Dank an Asylbek kyzy Zere für die Übersetzungen aus dem Kirgisischen und dem Russischen ins Englische.
Уя (Nest)
(Bischkek)
von Chagaldak Zamirbekov und Ensemble
Regie: Chagaldak Zamirbekov
Premiere war am 11. April 2025
Pearson’s Preview

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