Foto: Arno Declair, 2019 
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Foto: Arno Declair, 2019 
 

»Jugend ohne Gott«. Im Gespräch mit Thomas Ostermeier

von Joseph Pearson

29. Juni 2019

Regisseur Thomas Ostermeier und ich treffen uns in seinem Büro in der Schaubühne am Kurfürstendamm. Vom Fenster aus guckt er auf die Straße und winkt einem seiner Schauspieler zu, der jetzt ohne Kostüm rauchend vor dem Theater steht. Im Hintergrund spaziert eine Gruppe Kinder vorbei, von ihrem Lehrer angeführt, die womöglich von einem Ausflug zurückkehren. Und ich denke darüber nach, welcher Ausblick sich wohl 1933 bot, in dem Jahr, in dem der Architekt des Gebäudes, Erich Mendelsohn, vor den Nazis fliehen musste. Inwiefern ähneln sich das Berlin von damals und das von heute? Was passiert mit diesen Kindern?

Thomas wendet sich mir zu und wir beginnen unser Gespräch über seine neue Produktion »Jugend ohne Gott«. Der antifaschistische Roman von Ödön von Horváth, der 1937 veröffentlicht wurde, dient häufig als Zerrspiegel für heutige politische Verhältnisse. Und ich frage mich, mit welchen Entscheidungen sich ein Regisseur beschäftigen muss, wenn er diese historische Prosa heute auf die Bühne bringen will.

Joseph Pearson:
Fangen wir direkt bei den wichtigsten Begriffen im Titel an: »Jugend« und »Gott«. Wie ist ihr Verhältnis zueinander?

Thomas Ostermeier:
Die beiden Begriffe im Titel scheinen auf derselben Klaviatur zu spielen, für mich bewegen sie sich aber auf verschiedenen Ebenen. Einerseits wird den Jugendlichen in der Geschichte eine gewisse Gottlosigkeit unterstellt. Die Zeit, in der sie leben, das von Horváth so getaufte »Zeitalter der Fische«, lässt sie gottlos werden, weniger im religiös katholischen Sinne als im Sinne vom Verlust von Moral und innerem Anstand. Wenn Gott dann aber auftritt, ist es immer ein nahezu alttestamentarischer, schrecklicher Gott. Horváth lässt ihn am vorletzten Tag des Aufenthalts im Lager erscheinen, dann nämlich, wenn der Mord ans Tageslicht kommt.

Andererseits spielt der Titel auch auf die Tatsache an, dass der Protagonist, der Lehrer, an seinen inneren Werten, seinem Anstand und der An- oder Abwesenheit von Gott verzweifelt. Aus dieser agnostischen Weltsicht heraus hat er ein religiöses Erweckungserlebnis, eine Art Epiphanie, die ihn dazu bewegt, die Wahrheit zu sagen. So bringt er den Mut auf, zuzugeben, dass er so hinterhältig war, heimlich ein Kästchen aufzubrechen und im Tagebuch eines seiner Schüler zu lesen. Er weiß deshalb aber auch mehr als alle anderen: nämlich, dass der des Mordes an einem Mitschüler Beschuldigte nicht der Mörder sein kann. In gewisser Hinsicht findet er also wieder zu Gott. In unserer Bühnenfassung haben wir das ein bisschen in den Hintergrund gedrängt, aber man kann ganz simpel sagen, dass es eine »gottlose Zeit« ist. Das ist ja auch eine Redensart.

Pearson:
Dann stellen wir die Frage der Religion erstmal in den Hintergrund und fokussieren uns auf das Konzept der »Jugend«. Warum reizt es dich, ein Stück über Jugendliche zu machen? Wo liegen die Unterschiede in der politischen Haltung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen?

Ostermeier:
Wenn die Generation, in die man alle Hoffnung setzt, in der Kälte ihrer Weltsicht und ihrer Feindseligkeit gegenüber Fremden und Anderen weiter geht als die eigene Generation, man also konfrontiert ist mit einer jüngeren Generation, die desillusionierter ist als man selbst, dann sind die Dinge ins Rutschen geraten. Zwar gilt die Jugend seit Platon auf der einen Seite als verrohter als die Altvorderen, aber die Jugend einer Gesellschaft, das ist doch immer die, die sie erneuern und von Machtmissbrauch, Korruption oder Demokratieversagen befreien will.

Deshalb waren es 1968 die Jugendgeneration oder heute Greta Thunberg und die Schüler_innen der „Fridays for future“-Demonstrationen, die Farbe bekennen und sich laut gegen Missverhältnisse aussprechen – junge Leute, die noch nicht in ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen stecken und somit noch nicht um den Verlust ihres Arbeitsplatzes fürchten müssen. Das ist ja auch bei Horváth ein großes Thema: der Lehrer und der Schuldirektor, die um ihre Pensionsberechtigung bangen und deshalb nicht laut gegen die Verhältnisse protestieren. Hier ist die Jugend jedoch wiederum einen Schritt näher am Abgrund und nicht an der Läuterung oder der besseren Zukunft oder dem Paradies. Und das trifft, obwohl der Roman schon um 1936 fertiggestellt wurde, ziemlich genau den Kern dessen, was anschließend im faschistischen Deutschland passiert ist und was sich auch momentan mit dem Erstarken der Rechtspopulisten in Europa ereignet. Auch das sind Jungmännerbewegungen.

Die Führungsfiguren des Dritten Reichs waren durchweg zwischen 30 und 40 Jahre alt, mit Ausnahme von Hermann Göring. Das war eine Bewegung zorniger junger Männer, die richtig aufräumen wollten – das klingt ja auch heute wieder in der ein oder anderen Rede von Rechtspopulisten in Europa an.

Pearson:
Wenn wir über Jugend und Gott sprechen, über die Moralstrukturen einer »gottlosen Generation« – wie einfach lässt sich die von Horváth beschriebene Situation auf unsere heutige Lage übertragen? 

Ostermeier:
Gar nicht. Ich habe bei diesem Stück kein Interesse daran, es wie eine Art Schablone auf die Gegenwart zu legen und die einzelnen Phänomene zu übertragen. Das war interessant für »Italienische Nacht« und auch für Schnitzlers »Professor Bernhardi«, aber diesmal will ich einen anderen Versuch starten: Ich will eine Geschichte darüber erzählen, wie man den Mut erlangt, die Wahrheit zu sagen und was das für eine Vorbildfunktion auf den Widerstandsgeist Anderer haben kann. Und das in einer Zeit, in der man den Mut zur Wahrheit, wenn nicht mit dem Leben, so doch zumindest mit dem Verlust von sozialem Status, der Arbeitsstelle, der Reputation bezahlen muss. Das interessiert mich und ich belasse das Stück diesmal bewusst in seiner Zeit.

Pearson:
Du sagst, dass du keinen direkten Vergleich zwischen unserer heutigen und der damaligen Zeit anstellen willst. Dennoch beschäftigt sich dieser Text von 1936 nun mal mit vielen aktuellen politischen Problemen. Es gibt diese Redewendung »History doesn’t repeat itself but it rhymes« (dt.: Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich). Kannst du mir etwas darüber erzählen, wie du dich mit den historischen Elementen des Stücks auseinandersetzt? 

Ostermeier:
Die Geschichte im Stück ist ein Gleichnis, und dieses Gleichnis verhandelt die Frage nach persönlicher Verantwortung und individueller Courage. Ich hoffe, dass diese Fragen, die sich aus der Geschichte ergeben, zum Anlass genommen werden, über die eigenen Möglichkeiten und Momente von individueller Courage in unserer Gegenwart verschärft nachzudenken. Jede und jeder muss sich immer wieder diese Fragen stellen. Auch auf die Gefahr hin, feststellen zu müssen, dass man vielleicht schon den opportunistischen Weg im Umgang mit den Konfliktlinien unserer Zeit eingeschlagen hat.

Pearson:
Es gibt im Roman diese Figur des ehemaligen Lehrers, genannt Julius Cäsar. Der ist besessen von Sex. In einer Passage des Romans erklärt Cäsar seine politischen Standpunkte immer in Bezug auf die Verfügbarkeit von Sex für die verschiedenen Generationen. Außerdem durchzieht das Motiv des Voyeurismus‘ den Roman. Es gibt auch seitens des Lehrers ein Begehren gegenüber den Schülern, das zu problematischen Situationen führt. Diese untergründigen sexuellen Spannungen bergen für das Theater doch sicher viele Möglichkeiten, stelle ich mir vor … 

Ostermeier:
Wie jeder gute Autor weiß Horváth um die Macht des Eros, wobei bei ihm das Erotische immer auch etwas von Abhängigkeit, Fluch und Obsession hat – beispielsweise, wenn Oskar in »Geschichten aus dem Wiener Wald« zu Marianne sagt: »Du wirst meiner Liebe nicht entgehen.« Natürlich ist das ein Begriff von Liebe, der auf eine triebgesteuerte Gesellschaft hinweist, die ihre Triebe zugleich nicht ausleben darf. Dass die Triebe unterdrückt werden und in den engen Vorstellungen der monogamen, bürgerlichen Ehe ausgelebt werden müssen, führt unweigerlich zu Unheil. Ich weiß nicht, wie viele Historiker sich schon an die Frage gemacht haben, in welchem Maße das Dritte Reich mit verdrängter Sexualität zu tun hat und warum da so viel Sadismus und Grausamkeit zu Tage traten. Was hat das mit einem gestörten Intimleben zu tun? Ich glaube, da gibt es Zusammenhänge. Das spricht Horváth ganz klar in seinem Buch an, am deutlichsten vielleicht in der Figur des Julius Cäsar. 

Pearson:
Horváth war Ungar, schrieb auf Deutsch, lebte in drei Ländern und ist im kosmopolitischen Österreich-Ungarn aufgewachsen. Schließlich wurde seine Welt durch die Nationalsozialisten zerstört. Daher denke ich, dies aus heutiger Sicht wieder zu lesen, seine Stimme zu hören, ist gleichzeitig beunruhigend und vertraut, oder?

Ostermeier:
Häufig wird einer Utopie von Europa mit dem Argument widersprochen, Europa sei ein Gebilde aus Nationen mit zahlreichen Identitäten, mit Sprachgrenzen, die zugleich auch als Staats- und Landesgrenzen fungieren. Dabei wird gerne unterschlagen, was du gerade angedeutet hast:  Es gab bereits einen Vielvölkerstaat auf europäischem Boden, wo  ein Miteinander-Auskommen in einem riesigen Gebilde möglich war, nämlich Österreich-Ungarn, ein Staatengebilde, in dem Österreichisch, Tschechisch, Kroatisch, Italienisch, Polnisch, Rumänisch, Serbisch, Bosnisch, Slowakisch, Slowenisch, Ukrainisch, Jiddisch und andere Sprachen gesprochen wurden. Wenn dieser Staat zusammenbrach, dann nicht aufgrund der kulturellen Inkompatibilität, sondern aufgrund seiner hierarchischen und undemokratischen Struktur, seines Mangels an Selbstbestimmung der einzelnen Völker. Ich glaube, man sollte das Projekt eines europäischen Staates nicht aufgeben.

Pearson:
Wenn der Lehrer in »Jugend ohne Gott« sagt, dass »Afrikaner auch Menschen sind«, widerspricht er damit dem ihnen entgegen gebrachten europäischen Rassismus. Zu sagen, dass Menschen anderer Kulturen oder Glaubensrichtungen »auch Menschen« sind, scheint für uns völlig klar.

Ostermeier:
Ja natürlich, das ist offensichtlich für uns.

Pearson:
Und doch gibt es heutzutage eine Menge Leute, die diesem eindeutigen Statement widersprechen würden, auch in dem sie Parteien der extremen Rechten wählen …

Ostermeier:
Richtig, für Andere ist das offenbar nicht so offensichtlich und natürlich hat es eine ganz kuriose Resonanz, dass dieser Lehrer den umgekehrten Weg geht. Das Europa von 2019 ist Projektionsfläche für die Sehnsüchte vieler Menschen aus afrikanischen Ländern. Für den Lehrer aus »Jugend ohne Gott« ist es andersherum, er geht nach Afrika. Und es gibt ja immer wieder dieses Gedankenspiel: Wie würden wir als privilegierte Mitteleuropäer uns fühlen, wenn wir gezwungen wären, aufgrund einer humanitären oder ökologischen Katastrophe Europa zu verlassen und mit Booten nach Afrika zu fliehen. Würden die nordafrikanischen Staaten Frontex-Einheiten aufstellen, säßen wir in Fischerbooten fest, die uns in Marseille von irgendwelchen Hehlern und Kriminellen vermittelt worden wären … Man kann dieses Gedankenexperiment durchaus mal wagen. 

Pearson:
Der Roman wird häufig als antifaschistisches Handbuch betrachtet, wegen der humanistischen Positionen des Lehrers und dessen Geständnis, das auch andere dazu motiviert, politisch aktiv zu werden. Meinst du, das Buch kann in dieser Hinsicht als »Anleitung« gelesen werden?

Ostermeier:
Der Roman »Jugend ohne Gott« ist definitiv kein antifaschistisches Handbuch – sondern verhandelt vielmehr einen Zwiespalt Horváths. Wie wir aus der Horváth-Forschung wissen, war Horváth eben nicht der aufrechte Antifaschist, für den er oft gehalten wird. Tatsächlich floh Horváth nach Österreich, nachdem er Murnau verlassen musste, weil die Nazis das Haus seiner Eltern verwüstet hatten. Dann war er kurze Zeit in Henndorf in der Nähe von Salzburg, im Literatenkreis um Zuckmayer – wo sich viele aus Deutschland Geflüchtete versammelt hatten. Er musste dann allerdings, um Geld zu verdienen und sich ernähren zu können, wieder nach Deutschland zurück. Dort arbeitete er als Filmautor und hat Drehbücher für ein paar furchtbare Nazi-Schmonzetten geschrieben. Paul Hörbiger hat 1971 vor Gericht unter Eid ausgesagt, dass zumindest zwei solcher Filme aus der Feder Horváths stammen. Horváth hatte diese Drehbücher natürlich unter einem Pseudonym geschrieben. Es gibt außerdem Briefe, in denen er um die Aufnahme in die Reichsschriftkammer, den Schriftstellerverband des Dritten Reichs, bittet. Und das ist auch der Zwiespalt, in dem die Figur des Lehrers lebt: Alles am Faschismus stößt mich ab und reizt mich zum Widerspruch. Doch wenn ich aufrichtig anti-faschistisch bin, verliere ich meinen Job, meine Pensionsberechtigung, meine Reputation, ich bin auf der Flucht, ich bin bedroht an Leib und Leben und ich kann auch verhungern. Es sind Äußerungen von Horváth dokumentiert, in denen er sagt, dass er nicht mehr schreiben kann, weil er zu viel Hunger hat. Und genau das ist mein Fokus auf die Figur des Lehrers, diese Zerrissenheit. Etwas eigentlich tun zu müssen, sich aber gleichzeitig nicht zu trauen – aus den verschiedensten Gründen. Diese Zerrissenheit ist im besten Sinne eine Beschreibung der inneren Landschaften vieler sensibler Menschen zur Zeit des Dritten Reichs. Von Heute aus betrachtet fällt ein moralisches Urteil über diese Menschen sehr leicht. Aber der Preis dafür, sich moralisch anständig zu verhalten, war sehr hoch.

Das ist für mich der Kern dieses Stoffs, der deshalb eben kein anti-faschistisches Handbuch ist, sondern ein Stoff, der uns mit diesen Fragen konfrontiert und zugleich die Charaktere, die um diesen »Helden« angeordnet sind, sehr genau beschreibt. Ein Held, weil er dann schließlich doch den Mut aufbringt, alles hinter sich zu lassen und nach Afrika zu gehen.

Pearson:
Deine letzten Inszenierungen hatten alle einen zeitgenössischen Antrieb. Sie beschäftigen sich mit dem Erstarken der Rechten sowohl im historischen als auch im aktuellen Kontext. Also möchte ich unser Gespräch mit einer simplen Frage beenden: Warum hast du »Jugend ohne Gott« ausgewählt?

Ostermeier:
Natürlich hängt es auch mit der Tetralogie zusammen, die meine jüngsten Inszenierungen inzwischen bilden, also »Professor Bernhardi«, »Rückkehr nach Reims«, »Italienische Nacht« und nun »Jugend ohne Gott«, in der ich mich mit dem Erstarken von rechtem Gedankengut beschäftige, stets angebunden an die Frage, welchen Anteil an diesem Erstarken eine linke oder liberale Zivilgesellschaft hat. Doch in der Auseinandersetzung mit diesen Stoffen merkte ich auch, wie sich mir gleichzeitig die Frage nach individueller Verantwortung, nach Mut und Zivilcourage immer mehr aufdrängt. Und genau diese Fragen stellt »Jugend ohne Gott«. Das finde ich unwahrscheinlich interessant. Und es ist gerade auch der richtige Moment, diesen Stoff auf die Bühne zu bringen.

Jugend ohne Gott

von Ödön von Horváth
Regie: Thomas Ostermeier

Premiere bei den Salzburger Festspielen war am 28. Juli 2019
Premiere an der Schaubühne war am 7. September 2019

Trailer