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Klassenverräter
Didier Eribon und Thomas Ostermeiers »Rückkehr nach Reims«

von Joseph Pearson

19. September 2017

»Ich wurde von zwei sozialen Verdikten gebrandmarkt, einem sozialen und einem sexuellen«, schreibt der französische Philosoph Didier Eribon (*1953), Biograf von Michel Foucault und Professor der Soziologie an der Universität von Amiens. Das zentrale Thema seines autobiografischen Essays »Rückkehr nach Reims« (»Retour à Reims«, 2009) ist die Entfremdung von seiner Herkunft aus der französischen Provinz, nachdem er sich in der Metropole Paris neu erfunden hatte. Erzählt wird jedoch nicht bloß die Geschichte eines Jungen aus der Kleinstadt, sondern eine Geschichte der Linken als politische Bewegung der Arbeiterklasse.

Eribons autobiografischer Essay widmet sich seinem Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen in einer sogenannten »Gartensiedlung« am Stadtrand von Reims in den 50er und 60er-Jahren, und dem darauf folgenden Bruch mit seiner Familie. Die zentrale Frage des Buches ist, warum Eribon die Geschichte seiner Rebellion für lange Zeit nur durch die Linse seiner Sexualität (als schwuler Mann, der der Intoleranz der Kleinstadt entflohen ist) betrachtete und nicht durch die der Klasse (als ein »Klassenverräter«, der seinen Wurzeln in der Arbeiterklasse entflohen ist). »Warum habe ich, der ich dem Schamgefühl im Prozess der Emanzipation eine so große Bedeutung beigemessen habe, so gut wie gar nichts zur sozialen Scham geschrieben?« In seiner Antwort geht es genau um diese Scham. Eribon hatte sich bemüht, Teil eines exklusiven Zirkels von Pariser Intellektuellen zu werden, vor denen ihm die Verhaltensweisen, die Art zu Reden und der Rassismus der Arbeiterklasse unangenehm waren.

Den Vormittag verbringe ich bei Thomas Ostermeier und den Schauspielern auf der Probebühne. Später treffen wir uns in Thomas Büro, mit Ausblick auf den eleganten Kurfürstendamm, und ich frage mich, warum er sich von den Themen dieses Buches so angesprochen fühlt – so sehr, dass er sich entschieden hat, das Buch auf die Bühne zu bringen.

Ostermeier antwortet: »Meine erste und unmittelbare Reaktion war folgende Erkenntnis: Wenigstens bin ich nicht allein. Denn meine Geschichte – auch wenn sie sich in vielen Punkten unterscheidet – ähnelt der Eribons, und das Gefühl, sich für seine Herkunft zu schämen, ist mir sehr vertraut. Ich kenne patriarchale Familienverhältnisse, traditionelle Familienstrukturen, häusliche Gewalt. Und meine Eltern haben uns – ich habe zwei Brüder – immer gesagt, dass wir nicht aufs Gymnasium gehen würden, sondern stattdessen mit 14 die Schule verlassen sollten, um uns eine vernünftige Arbeit zu suchen und Geld nach Hause zu bringen. Das war der Plan«.

»Aber der Plan ging nicht auf«, werfe ich ein.

»Nein, wir haben darum gekämpft, aufs Gymnasium zu gehen, um später studieren zu können. Mein Vater war außerdem Soldat, was schwierig war, weil wir alle drei den Militärdienst verweigert haben. Es gab viele Konflikte zu Hause, wie bei Eribons Familie. Ich musste mich nicht mit Homosexualität auseinandersetzen, war nicht der Homophobie ausgesetzt (auch wenn ich weiß, dass meine damalige Umgebung in der Provinz von Homophobie geprägt war). Aber diese Geschichte – von einem, der versucht, die Provinz hinter sich zu lassen, um in der Großstadt Karriere im Intellektuellen-Milieu zu machen und sich dabei immer für seine Herkunft schämt, darüber nie ein Wort verliert, sondern sich immer versucht an das neue Milieu anzupassen – die habe ich verstanden. Eribon nennt sich einen ›Klassenverräter‹, und das ist auch meine Geschichte.«

Ostermeier fährt fort: »Ich teile außerdem die radikal linke Vergangenheit mit Eribon und ich bin auch davon besessen und leidenschaftlich interessiert an der Frage, inwiefern die Linke dafür verantwortlich ist, was in den letzten 30 bis 40 Jahren in den westlichen Gesellschaften politisch schief gelaufen ist. Auf welche Weise sollen wir die Geschichte der Sozialdemokraten, der Labour Party in Großbritannien oder des Parti Socialiste in Frankreich erzählen?«

In seinem Buch spricht Eribon vom Versagen der traditionellen Linken in Bezug auf die Arbeiterklasse. In den 80er und 90er-Jahren haben sich die Linken mit dem Neoliberalismus arrangiert und haben den Bezug zu ihren Wurzeln verloren. Eribon schreibt: »So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfalls eine Würde, die seit jeher mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten«.

Wer sind diese Repräsentanten? Linke Intellektuelle aus der Stadt sind häufig völlig unverständlich für genau die Menschen, die sie eigentlich repräsentieren sollten, und sie leben in einer Welt, die so gar nichts mit den industriellen und post-industriellen Landschaften des dörflichen Frankreichs zu tun hat.
Die rechten Parteien, wie der Front National (oder Trumps Republikaner, Theresa Mays Brexit-Tories) sprechen oft wesentlich deutlicher und überzeugender, und spielen mit einer Rhetorik des Rassismus und der Suche nach Sündenböcken.

Um eine amerikanische Perspektive zu bekommen, habe ich mit dem Berkeley-Professor Michael Lucey, dem englischen Übersetzer von »Rückkehr nach Reims«, gesprochen, der die Argumentation des Buchs auf die amerikanische Politik anwendet: »Die große soziale Frage in den USA ist die nach einer progressiven Politik, die sowohl gegen wirtschaftliche Herrschaft als auch gegen Rassismus und andere Vorurteile angeht. Aus dieser Perspektive ist Eribons Buch sehr interessant, da es versucht, den Aufstieg des Front National zu verstehen und den Keil, den der Front National zwischen anti-rassistische und anti-kapitalistische Proteste zu treiben versucht, zu beleuchten. Insofern kann man sagen, dass Eribons Buchs sowohl ein Phänomen in Frankreich herausstellt, das die gesamte US-amerikanische Geschichte durchzieht, als auch dass es die Sinnlosigkeit unterstreicht, ökonomische Herrschaft in Abgrenzung von anderen Formen sozialer Gewalt zu verstehen zu versuchen.«

Hinsichtlich der Zukunft europäischer Politik betrachten Eribon und Ostermeier noch ein weiteres zentrales Problem: werden die Opfer des Neoliberalismus ihre Stimmen den intoleranten und nationalistischen Kräften schenken, und damit paradoxerweise für Parteien stimmen, deren Politik ihnen wenig nützen wird (wie zum Beispiel der Brexit)? Wie sollte sich die Linke neu erfinden, um die politisch desillusionierten Bürger wieder abzuholen? Das ist eine wichtige Frage am Premierenabend, dem Abend der Bundestagswahl, bei der vermutlich die rechtsgerichtete, intolerante Alternative für Deutschland ihre Stimmen mehr als verdoppeln wird.

*
Vorhin bin ich durch den Studio-Hintereingang in einen kleinen, intimen Probenraum gelangt, in dem Ostermeier und seine Schauspieler das Stück durchspielen. Die Premiere ist in einer Woche. Nina Hoss nimmt hinter einem Mikrophon Platz.

Ostermeier erinnert sich: »Am Anfang stand der Wunsch, dieses Buch auf die Bühne zu bringen, aber direkt im Anschluss kam die Frage nach dem ›Wie‹ auf. Ich wollte keine dramatisierte Fassung des Buches machen, und ich wüsste auch gar nicht, wie das funktionieren sollte: Eribon sitzt am Küchentisch und redet mit seiner Mutter über Foucault?«

Stattdessen hat Ostermeier ein anderes Szenario entwickelt: die Figuren im Stück befinden sich in den letzten Zügen der Vertonung eines Dokumentarfilms, der auf Eribons Buch basiert. Nina Hoss spricht das Voice-Over für diesen Film ein. Wenn die Figuren gerade nicht an dieser Vertonung arbeiten, diskutieren sie die Themen des Buchs.

Auf die Gefahr hin, dass ich anbiedernd klinge: Nina Hoss bei der Arbeit zu beobachten, kommt einer Offenbarung gleich. Zwei – auf den ersten Blick gegensätzliche – Impulse ziehen sich durch ihr Spiel: Ihre Gesten sind außerordentlich präzise, aber sie ist gleichzeitig so entspannt und natürlich, dass es das Publikum kaum bemerkt. Ich fühle mich an Konzertpianisten erinnert, die die Struktur eines Stücks so sehr verinnerlicht haben, dass sie darauf aufbauend auf eine Art und Weise improvisieren können, die mühelos charismatisch erscheint.

Ostermeiers Inszenierung hat auch so eine entspannte, behagliche Beschaffenheit: ein unterhaltsames, langsames Gespräch, in das man sich fallen lassen kann. Ostermeier sorgt für eine tiefe Ruhe im Probenraum, wie er da auf seinem Drehstuhl sitzt, zuhört und – zu diesem späten Zeitpunkt im Probenprozess – nur noch Mikro-Korrekturen macht, die zu Makro-Veränderungen der Atmosphäre bestimmter Szenen führen. Wenn Hans-Jochen Wagner, der den Regisseur des Eribon-Films im Stück spielt, über ein Mikrophon mit Nina Hoss kommuniziert, erzeugt das ein Gefühl von Distanz oder Professionalität. Wenn der Produktionsassistent, gespielt von Renato Schuch, mit gedämpfter Stimme mit dem Regisseur diskutiert, vermittelt das eher als ein offen ausgetragener Kampf den Eindruck von Feindseligkeit. Es ist, als würde Ostermeier wie ein Tontechniker hinter seinem Mischpult sitzen und vorsichtig die Regler bewegen.

In mehr als einem Punkt ist Ostermeiers »Rückkehr nach Reims« ein Nachfahre seiner letzten Schaubühnen-Inszenierung »Professor Bernhardi« und verkörpert Ostermeiers Faszination für Menschen bei der Arbeit. Aber während »Bernhardi« sich mit Anti-Semitismus in einem Krankenhaus befasst, behandelt »Rückkehr nach Reims« die Welt der Proben und künstlerischen Produktionen – was wesentlich näher am Schaubühnen-Kosmos ist. Ostermeier ist sich bei der Umsetzung des Buchs für die Bühne durchaus seiner selbst bewusst. Aber die Produktion wird richtig »meta meta« und verwirrend, wenn man einer Probe bewohnt, auf der eine Probe geprobt wird… An einem Punkt konnte ich gar nicht mehr klar sagen, welche Kommentare der Schauspieler jetzt so im Text stehen, oder wann sie sich vom Text entfernt haben. Üben sie ihren Text, oder unterhalten sie sich? Ohne den Stücktext vor mir zu haben, kann ich es nicht erkennen. Das Spiel ist bemerkenswert naturalistisch.

Das Schaubühnen-Stück knüpft außerdem an das Leben der Schauspieler an: Nina Hoss verbindet Eribons Text mit Erinnerungen an ihren eigenen Vater, Willi Hoss, der ein kommunistischer Gewerkschaftsführer und später Gründungsmitglied der Grünen war. Ihre Kindheitserinnerungen an ihren Vater, mit dem sie ländliche Gegenden in Lateinamerika besuchte, öffnen Eribons Erzählung, in dem sie Vergleiche zu globaler Armut ziehen; diese Begegnungen mit Armut in Entwicklungsländern setzen das Bild der Armut im Nachkriegs-Reims in Perspektive.

Das Stück steuert außerdem einen toll produzierten und überzeugenden Dokumentarfilm über Eribon bei. »Es war wichtig, was auf der Leinwand zu sehen ist«, sagt Ostermeier. »Ich war mir sicher, dass es jede Menge Archivmaterial geben würde. Aber dann dachte ich, wir könnten ja auch Didier bitten, Teil des Projekts zu werden, und er hat dem zugestimmt. Überraschenderweise war auch Didiers Mutter sofort bereit, mitzumachen. Viele der Orte, die wir mit Didier besucht haben, waren für ihn sehr emotional besetzt. Aus einem rein künstlerischen wurde schließlich auch ein menschliches Projekt. Es war sehr bewegend, diese Orte mit ihm gemeinsam zu erleben.«

Es lohnt sich auch für sich genommen, den Film anzuschauen. Die Bilder sind voller Lichtbrechungen, wie in Fenstern alter Fabriken. Diese Brechungen deuten Erinnerungen an, Momente der Besinnung, der Nostalgie, des Schmerzes und eben der Rückkehr. Ich sehe Didier Eribons Spiegelung in einem Zugfenster, er sitzt unbewegt, während die französische Landschaft vorbeizieht auf dem Weg nach Reims, Richtung Vergangenheit. Das ergänzende Archivmaterial fügt Eribons – teilweise anekdotischer – Erzählung eine weitere dokumentarische Ebene hinzu.

Die Inszenierung wurde am 5. Juli auf dem Manchester International Festival uraufgeführt und jetzt auf Deutsch noch einmal neu bearbeitet. Ostermeier erzählt: »Ich war überrascht, als ich mit den deutschen Proben begonnen habe. Ich hatte mir die Umsetzung schwieriger vorgestellt. Wir haben das Ende verändert, also Nina Hoss’ Geschichte. Wir sind tiefer in die deutsche Politik eingestiegen, da Deutsche sich der Geschichte der Grünen und der DDR bewusst sind. Vielleicht teilen die Deutschen diese Leidenschaft für eine Reise in die jüngere Vergangenheit des Landes, aus einer anderen Perspektive. Wenn man in Großbritannien von Rudi Dutschke, Heinrich Böll oder Wolf Biermann spricht, wissen nur ein paar sehr gut informierte Leute, wer diese Personen überhaupt sind… Ich denke, unser Publikum in Berlin, zumindest viele von ihnen, wissen genau, wovon dieser Abend handelt«

Das bringt uns wieder zum Zeitpunkt der deutschen Premiere: dem Abend der Bundestagswahl am 24. September 2017. Wir werden vermutlich einen ganz klaren Gewinner haben, aber wir sind auch in der Situation, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass die AfD einen beispiellosen Sieg davon tragen und ihre Rolle in der Politik festigen wird. Was können wir von Didier Eribon lernen?

In Frankreich ist die Transformation von der Kommunistischen Partei zum Front National nicht geradlinig: es gibt riesige regionale und generationelle Unterschiede, und ältere Menschen wählen immer noch am seltensten den Front National. Aber man sollte sich dennoch fragen, warum die AfD vermutlich in den ehemals kommunistischen Ost-Bundesländern besonders erfolgreich sein wird.
(Auch wenn sich ihr Erfolg nicht auf diese Länder beschränkt, siehe Mannheim). Warum wirkt die Sprache der Populisten gerade auf die Unzufriedenen? Ist die AfD die »letzte Zuflucht« für die Arbeiterklasse (eines ehemaligen Landes?), um eine kollektive, nationale Identität zu definieren? Und inwiefern hat die Linke diese Wähler im Stich gelassen? Was kann das Theater daran ändern? Oder ist auch das Theater nur eine Quasselbude der urbanen Elite, weit entfernt von den Belangen der Arbeiterklasse?

Thomas Ostermeier erzählt mir seinerseits, dass er die Produktion irgendwann gerne nach Frankreich bringen würde, am liebsten sogar in die Kleinstädte und Dörfer, die Frontlinien dieser politischen Entwicklung. Ich frage mich, wie die Geschichte wohl im ländlichen Sachsen-Anhalt oder auch in Charlottesville aufgenommen würde. Am Ende ist die »Rückkehr nach Reims« nicht nur eine persönliche, sondern eine politische Reise, wenn wir das Phänomen der Machtverschiebung von den selbstverliebten Hauptstädten zu den Ängsten und der Wut der sogenannten »Peripherie« betrachten.

Aus dem Englischen von Franziska Lantermann.
Alle Zitate aus »Rückkehr nach Reims« stammen aus der deutschen Übersetzung von Tobias Haberkorn, Suhrkamp 2016.

Rückkehr nach Reims

nach dem gleichnamigen Roman von Didier Eribon
aus dem Französischen von Tobias Haberkorn
in einer Fassung der Schaubühne
Regie: Thomas Ostermeier
Globe

Premiere war am 24. September 2017

Trailer