LOVE HURTS IN TINDER TIMES: Ein Gespräch mit Patrick Wengenroth

von Joseph Pearson

23. Januar 2017

»Ursprünglich wollte ich ein Projekt über Eifersucht machen«, erzählt Patrick Wengenroth bei einem Bier in der Markthalle 9. »Und eine Weile lang sollte auch der Titel der Produktion schlicht ›Eifersucht‹ heißen. Aber dann ging es plötzlich um Liebe. Und wie Liebe Schmerzen verursacht, und Leiden. Also haben wir einen zweiten Titel in Erwägung gezogen, ›There is no such thing as love‹, Liebe existiert nicht. Doch schließlich sind wir bei ›LOVE HURTS IN TINDER TIMES‹ angelangt. Tinder times steht im Titel, weil es ein Stück über die heutige Zeit ist.«

Man kann sich Wengenroths neues Stück als eine Fortsetzung seiner Produktion »thisisitgirl« vorstellen. Beide sind Stückentwicklungen, inspiriert von Erfahrungen der Schauspieler und des Regisseurs, die sich auf Texte der »vierten Welle« des Feminismus beziehen. Gemeint sind die Formen des Feminismus, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben, beeinflusst von den Möglichkeiten des Internets, sich mit anderen bis dahin eher isolierten Parteien zu verbinden und zu solidarisieren. Als Beispiel genannt seien hier die Arbeiten der Queer-Feministin Laurie Penny, die #Aufschrei-Kampagne der Autorin und Medienberaterin Anne Wizorek (in der Frauen über sexuelle Übergriffe unter dem Hashtag #aufschrei berichteten), oder die riesige Social-Media-Organisation des »Million Women March« nach der Amtseinführung von Donald Trump. Wengenroth beschäftigt sich auch mit den Ursprüngen des zeitgenössischen Feminismus, so zum Beispiel mit Judith Butlers Untersuchung des »performativen Geschlechts«.

»Ich wollte mich noch tiefgehender mit Gender und Gender Trouble beschäftigen als in »thisisitgirl«, aus feministischer Perspektive. Wir arbeiten mit Judith Butler und Performance, und ihre Ideen lassen sich sehr gut auf das Theater übertragen, weil wir auf einer Bühne ›performen‹ und dort Allegorien erschaffen … Wir betonen, dass man Liebe ›performen‹ muss, dass Liebe eine Handlung ist. Man muss sie immer wieder erneuern, weil sie sonst abstirbt. Und Liebe verändert sich mit den Erfahrungen, die man macht. Es gibt zwei sehr nützliche Konzepte im Deutschen: ›Beziehungsarbeit‹ und ›tätige Liebe‹«.

Laut dieser Konzepte muss man also an einer Beziehung arbeiten, um Vertrauen und Offenheit zu schaffen. Wieviel »Arbeit« eine Beziehung ist, hängt davon ab, mit wem man lebt. Mir gefällt Wengenroths Beobachtung über die Transaktions-Dimension in der Liebe und ihre Kommerzialisierung in Zeiten eines globalen Kapitalismus.

»Die größte Veränderung in Sachen Liebe steht in direktem Zusammenhang mit dem Leben im Kapitalismus«, sagt Wengenroth. »In Deutschland ist die Idee des freien Marktes eng verwoben mit der Demokratie. Wir alle machen unsere Freiheit geltend, indem wir aus irgendetwas eine Dividende schlagen, sogar aus der Liebe. Um eine Dividende zu erhalten, muss man investieren – in ein Produkt, eine Person, eine Beziehung.«

»Um diese Position noch zu verkomplizieren binden wir im Stück einen Text von Marina Abramović ein, in dem sie dieses Problem unserer Gesellschaft beschreibt, in der Liebe meistens an Bedingungen und Transaktionen geknüpft ist. Sie betont, dass Liebe wertvoll ist, wenn sie bedingungslos ist. Wenn man etwas oder jemanden liebt ist es nicht wichtig, eine Gegenleistung zu erwarten.«

Hier scheint eine Konstellation von miteinander verbundenen Interessen zu entstehen. Indem er sich auf den performativen Aspekt von Beziehungen konzentriert – der sich so gut auf der Bühne darstellen lässt – formuliert Wengenroth eine besondere Form der Performance, in der Liebe zur Ware wird, eine Transaktion. Es wird umso schwieriger, die Stufe der bedingungslosen Liebe zu erreichen, wenn man sich außerdem noch mit der Rolle von Technologien beschäftigt.

Wengenroth fährt fort: »Jeder ist ein Produkt auf dem Markt. Und wenn sich mehr Menschen für uns interessieren, fühlen wir uns besser: wenn wir viele Likes auf Facebook kriegen, oder ein Match auf Tinder. Wenn uns viele Leute sagen, wie toll wir sind, fühlen wir uns anerkannt. In Verbindung mit der Frage nach Technologien geht es auch im Alltag ständig um Terminplanung und Effizienz. Wenn man sich oberflächlich mit Medien wie Frauenzeitschriften oder Lifestyle-Magazinen wie ›Neon‹ beschäftigt, dann erklären die einem, dass man sein Liebesleben wie seine Arbeit organisieren sollte. Ein witziges Beiprodukt des Phänomens der Polyamorie ist eine App, die würdigt, wie viel Organisationsstress es bedeutet, wenn man mehrere Partner hat. Die App hilft, Gefühle zu organisieren, wer wie viel kriegt.
Man hat 100 Prozent Liebe zu geben, aber der Tag hat nur 24 Stunden. Und da die meisten polyamourösen Gemeinschaften höchsten Wert auf totale Transparenz legen, darauf, dass alle immer alles wissen, ist man am Ende den ganzen Tag mit kommunizieren beschäftigt. Der Tag verfliegt.«

Diese Zerstreuung der Aufmerksamkeit und die Depersonalisation der Beziehungen in den sozialen Medien ruft mir ein Zitat von William Wordsworth in Erinnerung: »The World is too much with us; late or soon... Getting and spending, we lay waste our powers«. Man kann sich allerdings auch zu sehr mit den entfremdenden Effekten des Internets beschäftigen und dabei die Möglichkeiten außer Acht lassen, die sich bieten – wie zum Beispiel das Netz Solidarität zwischen denen schafft, die sich für einen alternativen Lifestyle entschieden haben. Das Phänomen der Polyamorie ist zentraler Bestandteil der Inszenierung.

»Als wir zusammen recherchiert haben – die Schauspieler haben das ganz locker in den zehn Tagen vor Weihnachten gemacht – haben wir über alles geredet: über Tinder, und wie unterschiedlich die Generationen mit Monogamie und Polyamorie umgehen, über den Unterschied zwischen Polygamie und Polyamorie, und wie die Polyamorie in Zusammenhang damit steht, wie sehr uns der Blick von außen beeinträchtigt. Der Klassiker wenn es darum geht, sich mit sexueller Anziehungskraft außerhalb der eigenen Beziehung auseinanderzusetzen, ist die Affäre. Aber das interessantere Phänomen ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Eifersucht innerhalb einer festen Beziehung (egal ob man schwul, lesbisch, bi oder hetero ist).
In Dossie Eastons Buch [The Ethical Slut, a Practical Guide to Polyamory, Open Relationships and Other Adventures, 2009], beschreibt sie, dass wir uns andauernd mit Eifersucht beschäftigen – ob in der Familie (Geschwisterrivalität) oder bei der Arbeit (ein Kollege wird gelobt, ein anderer nicht). Warum also schließen wir diese Realität, diesen Fakt, aus dem Feld der Liebe aus? Warum sagen wir, dass es keinen Platz für andere geben kann? Es ist doch interessant, dass etwas, das frei und leicht sein sollte wie die Liebe – mit ihren Herzen, Flügeln, Schmetterlingen im Bauch – in eine dunkle Kiste gesteckt wird. Wir sagen ›Ich liebe dich‹, stecken das in eine Kiste und verschließen sie.«

»Wie kommen dann diese zeitgemäßen Fragen nach Liebe, Kapitalismus, den Risiken und Möglichkeiten von Technologien und die Zunahme vom Polyamorie auf die Bühne?«, frage ich.

»Die Bühnenbildnerin [Mascha Mazur in Zusammenarbeit mit Céline Demars] hatte die Idee für einen Raum, der an Warhols Factory erinnert. In dieser Factory fand alles an einem Ort statt: Leben, Arbeit, Liebe und Ausstellungen. Kunst, Drogen und Liebe standen an der Spitze. Es war nicht so, dass man von der Arbeit nach Hause kam. Es gab keine Grenzen dazwischen: Arbeite ich? Performe ich als Künstler, oder als Privatperson? Also haben wir für unsere Untersuchungen einen offenen Raum erschaffen, der eher wie ein Loft oder ein Studio ist.«

»Und kannst du schon verraten, was wir auf der Bühne sehen werden?«

Wengenroth grinst. »Ich sage es mal so: im ersten Teil des Abends erschaffen die Schauspieler gemeinsam ›Kunstwerke‹, mit ihren Körpern, mit Farbe auf Transparentfolie und auf ihnen selbst. Das ist wie eine Allegorie auf das Phänomen der Liebe, auf das In-Kontakt-Sein mit anderen, wie man sich gegenseitig verändert. Wenn man liebt, hinterlässt man Spuren«.

Aus dem Englischen von Franziska Lantermann.

LOVE HURTS IN TINDER TIMES

von Patrick Wengenroth und dem Ensemble
Realisation: Patrick Wengenroth
Auf Deutsch mit englischen Passagen
Globe

Premiere war am 28. Januar 2017

Trailer