Weder Theater, noch Kino: Katie Mitchells dritte Kunstform in »Schatten«

von Joseph Pearson

26. September 2016

Selten habe ich so viel Technik und so viele an einer Produktion beteiligte Leute gesehen, wie auf der Probe zu »Schatten (Eurydike sagt)« – es sind bestimmt 50 Mitarbeiter. Regie, Ton und Video arbeiten geschäftig an langen Tischen. Auf der Bühne befinden sich Kameraleute und Techniker mit Mikrofongalgen, Bühnenarbeiter umkreisen die Schauspieler und ein aufwändiges baukastenartiges Bühnenbild. Bodenmarkierungen, Drähte, Kabel, Monitore und ein alter VW Käfer überkreuzen sich auf komplexe Weise. Ich habe gehört, dass sich irgendwo im Hintergrund ein Schlangenbändiger aufhält, und sogar eine echte Schlange, der allerdings die Giftzähne gezogen worden sind. Anfangs setze ich mich in die fünfte Reihe, muss mich aber immer weiter zurückziehen, um das spannende Spektakel voll und ganz aufnehmen zu können.

In dem ganzen Gewühl gibt es scheinbar einen Ort der Besinnung: Die Regisseurin, über deren Stuhl eine schwarze Lederjacke hängt. Ruhig macht sie sich Notizen, dann beugt sie sich zu den Kollegen hinüber und gibt gedämpfte Anweisungen. Hin und wieder trinkt sie einen Schluck Wasser oder isst eine Reiswaffel. So viel ruhige Besonnenheit erstaunt mich.

Während unseres Gesprächs in einer Teepause sagt Mitchell dazu: »Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass Delegieren eine der Stärken guter Regiearbeit ist, jedenfalls meiner Meinung nach. Was ist meine Aufgabe? Ich bin die Person mit dem Plan, dem Konzept. Ich schaffe die Landschaft, in der das Stück stattfinden kann, die Regeln, und sorge dafür, dass wir uns alle innerhalb dieser Regeln bewegen. Außerdem muss ich dafür sorgen, dass dieses Netzwerk funktioniert, dass es keine Schwachstellen gibt, die zu mangelhafter Kommunikation und damit einem schlechten Ergebnis führen. Aber was verschafft mir eigentlich das Delegieren? Mehr Freiraum, um mir wirklich brillante Lösungen für Probleme überlegen zu können. Je mehr ich also Aufgaben an wahnsinnig talentierte Menschen delegiere, die in diesen Bereichen Fachleute sind, desto mehr Zeit verschaffe ich mir. Es ist aber schon ein bisschen hektischer als es aussieht. Ich schreie nur nicht so viel herum, deshalb wirke ich ruhiger.«

Ich antworte: »Ich glaube, das ist eins der großen Probleme für Künstler: einen angemessenen Abstand zu entwickeln, um tatsächlich die eigene Arbeit wahrnehmen zu können – «

Sie nickt: »Ja, wenn man drin steckt – zu nah dran ist – muss man die Dinge auch mit einer gewissen Distanz betrachten können.«

Ohne zu viel zu verraten (diese Technik fand schließlich auch in anderen Produktionen von Mitchell Anwendung): Das Publikum sieht dabei zu, wie ein Film auf der Bühne gedreht wird, während oben drüber das Endprodukt in Echtzeit projiziert wird. Was »Schatten (Eurydike sagt)« letztlich ausmacht, ist eine minutiöse und virtuose Choreografie aus hunderten von Stichworten, die sich in einem bemerkenswerten Tempo bewegt und all diese Video-, Ton-, Schauspiel- und Design-Talente mit einbezieht.

Eine beeindruckend stimmige Ästhetik ist schon bei den Proben klar ersichtlich: ein Raum aus Aufzugsschächten und Autotunneln, durchbrochen von einer enervierenden Electro-Industrial-Filmmusik. Das Pendeln zwischen Licht und Schatten, der Übergang zwischen Leben und Tod. Eine geschlossene, metallische Struktur erfüllt den Raum, während etwas Menschliches und Lebendiges versucht, zwischen den Drähten hervorzukommen, aus den Roboterinnereien herauszutreten. Eurydike will den Motor starten, Gas geben, in die Schatten hinein.

»Für mich ist diese Form eine Synthese aus Theater und Kino, die etwas Drittes schafft: etwas wie Kubismus im Theater«, erläutert Mitchell. »Die Kameras erlauben uns, aus allen Blickwinkel zu sehen, wie etwas konstruiert wird, während wir das konstruierte Objekt betrachten – so wie bei Picassos frühen dreidimensionalen Portraits eines weiblichen Kopfs, bei denen alle Ebenen gleichzeitig sichtbar sind. Das ist nicht entweder Theater oder Film, es ist ein eigenartiges Drittes, das sich sowohl der Stärken der Film- als auch der Theaterwelt bedient.«

Was diese doppelte Erzählung – das Ballett des Filmemachens auf der Bühne und die Projektion des Films darüber – liefert, sind Erkenntnisebenen. Der Film fungiert als ein zweites Fenster ins Bewusstsein, eins, das es uns ermöglicht, in Eurydikes Psyche einzudringen.

»Natürlich findet jeder Orpheus faszinierend – selbst in diesem Stück – aber die Kameras geben uns die Möglichkeit, ihn durch Eurydikes subjektive Perspektive zu sehen, und ihn damit allmählich neu zu interpretieren. So, wie sie ihn ansieht, können wir ihn uns neu vorstellen. Die Kameras verschaffen uns diese entscheidende Subjektivität. Würde man Orpheus einfach in ein Theaterstück mit Eurydike stecken, dann würde Orpheus gewinnen.«

Mitchell erklärt weiter: »Ich denke, dass das Theater nur begrenzt auf das Bewusstsein oder die Subjektivität der in ihm dargestellten Figuren eingehen kann. Es ist ein sehr limitiertes Format. Das hat sehr viel mit Maßstäben zu tun. Es wird immer eine metaphorische Kunstform bleiben, verglichen mit den bildenden Künsten. Es kann nicht kubistisch oder abstrakt sein. Der Film hingegen, denke ich, kann wirklich in diesen subjektiveren Bereich vordringen und einfangen, wie es ist, eine bestimmte Person zu sein und aus dieser Person heraus auf die Welt zu blicken.«

»Was genau versetzt den Film in die Lage, das zu tun?« frage ich.

»Es sind die Details. Ein Gesicht hat ungefähr 200 Muskeln – schon in der fünften oder sechsten Reihe kann man die Details der Mimik kaum erkennen. Und in der zwanzigsten Reihe sieht man davon gar nichts mehr. Man fängt an, die Körpersprache zu lesen, weil man die Gesichtszüge nicht erkennt. Ich denke, die Kamera gleicht die Sicht des Zuschauers auf die Details aus. Für mich geht es bei der Verwendung von Kameras um Details und Subjektivität. Sie bringt einen näher heran.«

Sie hält einen Moment inne und sieht mich konzentriert an: »Für die meisten von uns gilt, dass die großen Ereignisse im Leben nicht auf dem Schlachtfeld mit Schwertern passieren, kaum an öffentlichen Orten, sie sind meist sehr privat. Du sitzt eher an einem Tisch mit einem geliebten Menschen, mit dem du seit einem Jahrzehnt zusammen bist, und fragst den geliebten Menschen: »Wo warst du gestern Abend?« Und der geliebte Mensch unterbricht den Blickkontakt mit dir für eine Millisekunde, dann kehrt sein Blick zu dir zurück und in diesem Moment weißt du, dass du betrogen wurdest, und die Beziehung ist vorbei. Zehn Jahre deines Lebens ausgelöscht in einem unterbrochenen Blickkontakt, der eine Millisekunde dauert. Das Theater hat echte Schwierigkeiten, diese Momente zu kommunizieren, aber im Kino geht das. Hier, wo wir eigentlich Theater machen, können wir diesen wunderbaren Augenblick, die Millisekunde, haben.«

»Und was kann das Theater, was das Kino nicht kann?« frage ich.

»Oh, jede Menge«, lächelt sie, »es ist wie gesagt eine begrenzte Kunstform, weil man mit dem Theater nur bis zu einem bestimmten Punkt kommt, wenn man sich für Psychologie und Verhalten und Subjektivität interessiert – und ich interessiere mich sehr für diese drei Dinge. Aber wenn ich nur mit Film arbeite, fehlt mir die Lebendigkeit des Ganzen. Sich einen Film anzusehen kann sehr erschreckend und gefährlich sein, man ist aber weit entfernt von der Realität, die er aufzeichnet. Hier bist du, im Gegensatz dazu, sehr nahe am Handwerk der 50 Leute auf dem Parkett, die diesen Film für dich herbeizaubern.«

Der Text »Schatten (Eurydike sagt)« der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ist der Gegenstand der »dritten Kunstform« Mitchells. Die Orpheus-Sage ist ja eine der gefühlvollsten und üblicherweise bewegendsten ihrer Gattung, jedenfalls auf den ersten Blick. Die Reise des Sängers in die Unterwelt, die später von Vergil in den »Georgica« und von Ovid in den »Methamorphosen« nacherzählt wurde, hat den Zweck, seine geliebte Eurydike, die von einem Schlangenbiss getötet wurde, wieder zurückzuholen. Die einzige von Hades gestellte Bedingung, bei deren Nichterfüllung Orpheus seine Eurydike wieder verlieren würde, ist, dass er sich auf seiner Rückkehr zur Oberwelt nicht aus Misstrauen gegenüber der Obrigkeit umsehen darf, um ihr in die Augen zu schauen – ein Verbot , welches für viel Spannung sorgt.

Nicht nur Feminist_innen der vierten Generation betrachten den roten Faden der Gründungsmythen in modernen Kulturen als patriarchalisch. So sollte es nicht überraschen, dass das feministische Neuerzählen dieser Mythen eine ausgeprägte Tradition besitzt. Jelinek befindet sich mit Christa Wolfs alternativer Agamemnon-Erzählung nach Aischylos (aus der Perspektive von Kassandra, die in einem Käfig vor den Toren des blutigen Palasts wartet) und Anne Carsons »Rot: Ein Roman in Versen« (in dem Herakles’ Heldentaten aus der Sicht seines Opfers Geryon betrachtet werden) in bester Gesellschaft. In der Umkehrung der Perspektive werden jahrhundertealte Annahmen über den Haufen geworfen, möglicherweise sogar deren roter Faden geradewegs aus dem Nadelöhr gezogen. Letztendlich stellt Elfriede Jelinek die zentrale Frage: Hat eigentlich irgendjemand Eurydike gefragt, ob sie überhaupt von den Toten zurückgebracht werden wollte?

Mitchell erzählt, dass sie schon vor vielen Jahren das erste Mal mit Jelineks »Schatten (Eurydike sagt)« in Berührung kam. »Dieser Text hat sich mir wirklich eingeprägt, ich mochte ihre Neufassung mythologischer Geschichte. Ohne, dass es mir bewusst war, ist in meinem Kopf eine Idee für die Umsetzung herangewachsen: Ich dachte, wenn ich die Reise in die Unterwelt darstellen könnte – und da müssten Fahrstühle, unterirdische Tunnel und lange Korridore sein – dann wäre es mir möglich, diese Reise als tatsächliche Geschichte zu gestalten. Ein Text, der sich um diese neue, lineare Erzählung dreht.«

»In dem Jelinek-Text wird diese Unterwelt nicht von Männern kontrolliert. Eurydike kann frei sein, allen Druck abwerfen, der ihr von einer patriarchalischen Umgebung auferlegt wird. Ich denke, dass Jelinek da sehr eindeutig ist. Von großer Bedeutung ist in meiner Inszenierung des Textes Eurydikes aktive Tätigkeit: sie bringt Orpheus dazu sich umzudrehen, weil sie die Entscheidung trifft zurückzugehen. Diese Entscheidung wird nicht Orpheus überlassen, er steht eher im Hintergrund. Viele Leute haben sich jahrhundertelang hauptsächlich für ihn interessiert, und meine Aufgabe besteht darin, den Zuschauern dabei zu helfen, sich das Ganze aus Eurydikes Blickwinkel vorzustellen.«

Eurydike wird als Dichterin präsentiert, im Kontrast zum ungestümen, selbstverliebten Rockstar Orpheus. Die Enge und Isolation, in der sich Eurydike im Hades wiederfindet, wird – fast wie in Virginia Woolfs »A Room of One’s Own« (»Ein Zimmer für sich allein«) – zu einem Ort des Nachdenkens, künstlerischer Unabhängigkeit und der Kreation. Er bietet die Stille, die zum Erschaffen notwendig ist, während man Orpheus’ Musik immer leise hören kann, selbst dann, wenn er seine Kopfhörer trägt.

»Wann kommen dir deine Ideen«, frage ich Mitchell, »musst du dafür verreisen? Wo ist dein Ruheort, fernab von den Nebengeräuschen?«

Katie Mitchell lacht und deutet an, dass sie keine Zeit zum »Verreisen« hat: »Ich arbeite ständig. Ich habe immer so viele Projekte am Laufen. Ich bin bis 2019 ausgebucht und weiß schon jetzt, dass die Fertigstellungsermine für zwei Opern auf mich zukommen. In meiner Teepause kann ich vielleicht müßig darüber nachdenken, was ich machen möchte, und manchmal habe ich eine Idee. Aber sie kommen nicht auf Bestellung.«

Sie hat tatsächlich gern viel zu tun. »Mein Jahr war bisher fantastisch, wer kann sich da beklagen? Ich habe meine Oper, mein klassisches Theater, meine Kinoarbeit, ich mache auch Installationen, und ich genieße den Wechsel zwischen all den verschiedenen Arten etwas zu schaffen wirklich, das ist herrlich. So ist das Leben. Sie entfalten sich, die Jahre.«

Schatten (Eurydike sagt)

von Elfriede Jelinek
Regie: Katie Mitchell

Premiere war am 28. September 2016

Trailer