FIND 2024
Alexander Zeldin:
FIND 2024 Artist in Focus
»Beim Theater muss man ambitioniert sein, warum sollte man sich sonst überhaupt die Mühe machen?«
von Joseph Pearson
27. März 2024
Alexander Zeldin, der Artist in Focus des Festivals Internationale Neue Dramatik (FIND) 2024 an der Schaubühne, ist ein heller, neuer Funke im britischen und europäischen Theater. Ich erreiche ihn telefonisch als er gerade aus einer Probe in London kommt. Während er spricht, höre ich im Hintergrund das Großstadtleben: Verkehr, Stimmen von vorbeieilenden Fremden, deren geschäftiges Treiben, und ich denke darüber nach, wie Zeldins Theater die Aufmerksamkeit auf das Intime und Individuelle richtet.
Ich frage Zeldin, was sein Theater so wiedererkennbar macht und ob sich darin ein bestimmter Stil beschreiben lässt.
»Ich denke schon, dass man merkt, wenn man sich eins meiner Stücke ansieht, dass es von mir ist,« lautet seine Antwort. »Das hat etwas mit der Sprache zu tun, oder auch mit der Art und Weise, wie ich mit Stille umgehe, oder wie ich versuche, Menschen mit einem gewissen Mitgefühl zu betrachten. Aber eigentlich denke ich darüber gar nicht auf diese Weise nach.«
Ich will Zeldin nicht mit den zahlreichen Etiketten belasten, mit denen die Presse ihn kategorisiert, von denen aber keins wirklich befriedigend ist: Naturalismus, Dokumentarische Form, Doku-Fiktion ... Aber der Regisseur beweist eine ungewöhnliche Geduld gegenüber meinem Bedürfnis, ihn festzunageln.
Ich erwähne, dass er manchmal mit Annie Ernaux oder Édouard Louis verglichen wird, aber er erwidert: »Ich liebe die beiden, und mich interessiert der Drang, die Wirklichkeit zurückerobern zu wollen, den wir in den letzten 15 Jahren in literarischen Werken beobachten konnten. Heutzutage werden die Arbeiten von Schriftsteller_innen und Theaterautor_innen von Memoiren dominiert, das ist offensichtlich gerade aktuell. Aber trotzdem ist das nicht das Einzige, und es ist auch nichts Neues. George Eliot schrieb auch schon über ihre Familie, aber das würde man niemals »Doku-Fiktion« nennen. Mich haben die verschiedensten Einflüsse geprägt. Ich habe aber nicht nur einen davon im Kopf, oder eine Rangordnung von Einflüssen.«
Ich entgegne: »Ich glaube, eines der für mich auffälligsten Dinge in deinen Stücken ist die Konzentration auf kleine Details: ein kochender Teekessel, eine Minimalaktion auf der Bühne. Wir bringen ja alle unsere eigene Bibliothek an Assoziationen mit ins Theater, und mich erinnert das oft an Alice Munro...«
Zeldin erwidert: »Munro ist eine der wichtigsten Autorinnen in meinem Leben, mindestens genauso wichtig wie die, die du schon erwähnt hast. Ich möchte das Leben in einer Intensität spüren, die sich uns im wahren Leben manchmal entzieht. Theater kann dabei helfen, diese Realität der Illusion wieder zu entreißen. In diesem Sinne ist es eine der Aufgaben des Theaters, die Würde des Lebens wieder einzufordern. Und mein Interesse an kleinen Details ist eine meiner persönlichen Vorlieben. Das ist einfach mein Geschmack. Es interessiert mich, zu beobachten, und wie das Beobachten eine Geschichte entschlüsseln kann. Vom Kleinen aus kann man zu etwas Großem gelangen; ich denke dabei an Racines Vorwort zu seinem Stück Bérénice: »toute l’invention consiste à faire quelque chose de rien« [jede Erfindung besteht darin, aus nichts etwas zu machen].
»Was ist dieses Etwas, das geschaffen wird?«, möchte ich wissen.
»Ich glaube, wonach ich im Theater suche ist eine konkrete Formgebung für innere Landschaften und Gefühle. Ich spüre, dass man – wie Peter Brook das oft getan hat – die Frage nach dem Warum des Theaters stellen muss: Wofür ist es gerade jetzt in dieser Gesellschaft da?«
Die Frage nach dem Wofür hat in der »The Inequalities«-Trilogie (2014-19), mit der Zeldin internationale Aufmerksamkeit erlangte, eine ganz offenkundige politische Dimension. Hier werden Geschichten von Solidarität angesichts gesellschaftlicher Ungleichheit erzählt, an alltäglichen Orten wie in einer Obdachlosen-Notunterkunft, einer Fleischverarbeitungsfabrik oder einem Gemeinschaftszentrum. Das Berliner Publikum bekam einen ersten Eindruck dieser Stücke, als »Love« im Jahr 2021beim FIND an der Schaubühne gezeigt wurde (die Filmversion ist beim diesjährigen Festival zu sehen).
Ich erinnere mich an die Unterhaltungen, die ich anlässlich der Berliner Erstaufführung von »Love« geführt habe. Theaterbesucher_innen in der deutschen Hauptstadt nahmen einen politischen Impuls wahr, der an Brecht erinnerte, aber Zeldins Konzentration auf Innerlichkeit positioniert ihn jenseits dieser Tradition. Die Inszenierung warf Fragen auf, und so wurde Zeldin eingeladen, 2022 mit dem Ensemble der Schaubühne eine deutsche Version des Stücks »Beyond Caring« aus der Trilogie zu erarbeiten. Das diesjährige Festival wird eingerahmt vom dritten Teil der Trilogie – »Faith, Hope and Charity«, in der Londoner Besetzung – und einem neuen Stück, »The Confessions«, das auf den Erinnerungen seiner australischen Mutter an acht Jahrzehnte Emanzipation basiert.
Ich frage danach, wie die Entwicklung von der Trilogie hin zu »The Confessions« verlaufen ist. Zeldin hat mir schon vorher von seinem Bestreben berichtet, »nichts zu wiederholen, was man schon mal gemacht hat, besonders, wenn es relativ erfolgreich war«.
Er antwortet: »Nach »The Inequalities« verspürte ich das Bedürfnis nach einer anderen Art Erzählung. Als ich anfing, an »Love« zu arbeiten, war das von einem aufrührerischen, grenzüberschreitenden Geist getragen – eine Reaktion darauf, was nach meinem Empfinden im Theater keine Gestalt bekam. Das Letzte, was ich hätte machen wollen, wäre noch ein Stück zu den »Inequalities«. Es ist wichtig, nicht in irgendeiner Sache zu verharren, und ich bin froh darüber, dass das Publikum beim FIND »Faith, Hope and Charity«, den Höhepunkt jener Reihe, zu sehen bekommt, aber daneben mit »The Confessions« auch etwas völlig anderes.«
»Wie kamst du auf diese Geschichte, die ein Arbeiterklassenleben erzählt, in Australien spielt und mit einem Schulabschlussball im Jahr 1958 beginnt?«, möchte ich wissen.
»Während Covid, als so viele Menschen im Sterben lagen, war mir klar, dass ich eine komplette Lebensgeschichte auf die Bühne bringen wollte, und ich wollte dabei aufgliedern, was Fiktion ist und was nicht. Ich wusste, dass ich die Fantasiewelt ausgereizt hatte und mit Material arbeiten wollte, das real war. Deswegen habe ich meine Mutter interviewt, zu der ich eine sehr enge Beziehung habe. Aus literarischer Perspektive ist das als eine Sammlung von Fragmenten sehr spannend, vor allem im Hinblick darauf, wie sie ihre Geschichte erzählt und wie sie sich erinnert. Ich wollte die Frage in den Raum stellen: Kann ein Schauspiel der Vorstellung gerecht werden, das Leben einer Person zu ehren, die sich darauf vorbereitet, diese Welt zu verlassen? Das ist eine verdammt große Frage. Aber beim Theater muss man ambitioniert sein, warum sollte man sich sonst überhaupt die Mühe machen?«
Unser Gespräch nähert sich dem Ende, aber ich möchte noch wissen, was es für ihn bedeutet, so viele seiner Arbeiten in Berlin zu zeigen.
Im Rahmen eines internationalen Festivals, erläutert er mir, ist es »zuallererst eine große Ehre, dass so viele meiner Arbeiten präsentiert werden. Ich selbst bin ein Außenseiter – mein Vater wurde in Haifa geboren, meine Mutter in Australien, ich habe in England eine französische Schulbildung durchlaufen, deshalb finde ich es spannend, ein Teil vieler unterschiedlicher Kulturen zu sein. Es ist ein Privileg, zwischen verschiedenen Welten zu stehen. Außerdem bin ich ein idealistischer Mensch, was möglicherweise eine Gegenströmung zu dem darstellt, wie an den meisten Orten Theater gemacht wird. Aber ich glaube, dass in diesem Festival Idealismus steckt, wenn Menschen von überallher kommen und sich fragen: Worin besteht die Notwendigkeit von Theater?«
Übersetzung: Johannes Kratzsch