Lacrima, Foto: Jean-Louis Fernandez 
Lacrima, Foto: Jean-Louis Fernandez 
Lacrima, Foto: Jean-Louis Fernandez 
Lacrima, Foto: Jean-Louis Fernandez 
Lacrima, Foto: Jean-Louis Fernandez 
Lacrima, Foto: Jean-Louis Fernandez 
 

Die Haut der Wirklichkeit anheben
Caroline Guiela Nguyen, »Artist in Focus« beim FIND 2025

by Joseph Pearson

09. April 2025

Ich frage die französische Regisseurin Caroline Guiela Nguyen nach ihrer Arbeit mit dem Théâtre national de Strasbourg und suggeriere, dass das Zentrum nicht immer der Mittelpunkt ist. Vielleicht hat es Vorteile, wenn man in der Provinz arbeitet, in sicherer Entfernung zur Anziehungskraft von Paris?

Guiela Nguyen ist zu elegant, um die Hauptstadt zu bewerten und verweist stattdessen auf die Vorzüge der sprachlichen und kulturellen Spannungslinie, die im Elsass existiert, an einem Ort, der außerdem sehr europäisch ist. Doch sie antwortet auch: »Universalismus muss heutzutage völlig neu überdacht werden. Deshalb mag ich die Formulierung, dass der Mittelpunkt nicht immer der Mittelpunkt ist.«

Dezentrieren ist eine Möglichkeit, Guiela Nguyens Arbeit zu verstehen, die sich seit ihrer Premiere von »SAIGON« beim FIND 2018 an der Schaubühne über fast ein ganzes Jahrzehnt erstreckt. Guiela Nguyen kehrt nun als unsere »Artist in Focus« zum diesjährigen Festival nach Berlin zurück, mit einer Reprise ihres Debütstücks und zwei weiteren Inszenierungen, »LACRIMA« [2024] und »VALENTINA« [2025], letztere eine neue Arbeit, die hier als Vorpremiere gezeigt wird.

Ich frage sie, wie es ist, alte und neue Stücke gleichzeitig für das Festival einzustudieren, und sie erwidert: »Besonders schön finde ich es, nicht nur drei Stücke wiederaufzunehmen, sondern auch alle an diesen Arbeiten Beteiligten gemeinsam an einem Ort zusammenkommen zu sehen. Wir bringen Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammen – französische, vietnamesische, indische, englische und rumänisch-französische Schauspieler_innen, mit all ihren verschiedenen Sprachen – und basierend auf diesen Unterschieden gelingt es uns, Geschichten zu erzählen. Das finde ich sehr berührend.«

»Wenn Sie Ihr Werk als Ganzes betrachten, welche Kontinuitäten gibt es da? Wie lässt sich der Weg von ›SAIGON‹ bis heute beschreiben?«

»›SAIGON‹ war für mich sehr wichtig, denn das war das erste Mal, dass ich in meiner Arbeit Erzählung mit Geografie und Geschichte in Übereinklang bringen konnte. Das gab mir die Möglichkeit, mir Geschichten in einem viel größeren Rahmen vorzustellen, und damit habe ich dann weitergemacht.«

Guiela Nguyen besteht darauf, Geschichten aus dem Blickwinkel der »Anderen« zu erzählen, und betrachtet dabei das Leben in Frankreich im Kontext globaler Geschichte. »SAIGON« wird aus der Perspektive eines vietnamesischen Restaurants in Paris erzählt, »LACRIMA« bietet einen internationalen Ausblick auf die Textilindustrie, und in »VALENTINA« geht es um ein Kind, das bei einem Arztbesuch ihrer immigrierten Mutter, die kein Französisch spricht, übersetzen muss.

Um diesen marginalisierten Geschichten eine Stimme zu verleihen, hat sich Guiela Nguyen während ihrer gesamten Laufbahn auf »Wirklichkeitsexpert_innen« gestützt, wie sie es nennt, was eine bessere Bezeichnung für Schauspieler_innen ist, die normalerweise nicht professionell im Theater arbeiten. Sie alle haben die Liebe zu Geschichten gemeinsam, »das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen. Das ist das Fundament. Ich habe sogar den Eindruck, dass es mir in meinem Leben nur dann gut geht, wenn ich es schaffe, etwas aus der Realität herauszugreifen und in eine Geschichte umzuwandeln. Das hält meine Verbindung zur Realität aufrecht.«

Diese realen Orte sind Arbeitsplätze – eine Küche, eine Textilwerkstatt – und im Mittelpunkt steht dabei handwerkliche Arbeit. Dazu gehört die Überlegung, wer diese Arbeit verrichtet und welche kolonialen Zusammenhänge dadurch Bestand haben.

Guiela Nguyen führt dazu aus: »›SAIGON‹ spielt in einem Restaurant, es geht darin um den Beruf der Gastronomin und um den Einfluss, den er auf das alltägliche Leben eines jeden Menschen hat, insbesondere derer, die im Exil leben. Ein vietnamesisches Restaurant wird zu einem Ort, an dem man seine Muttersprache hören kann, wo man Dinge essen und Gerüche wahrnehmen kann, die einen mit dem früheren Leben verbinden. In ›LACRIMA‹ befinden wir uns auch in Arbeitsräumen: in einer Spitzenmanufaktur, einer Stickerei, einer Pariser Damenschneiderei. Und auch ›VALENTINA‹ spielt an Arbeitsplätzen: die Mutter und ihre kleine Tochter gehen mit einer Lehrerin in die Schule, und sie suchen eine Kardiologin auf.«

»Letztlich ist Arbeit etwas, das uns alle verbindet. Und ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass sich diese Geschichten an intimeren Orten ereignen könnten. Es sind diese Räume, die der Gesellschaft eine Struktur geben. Dadurch, dass sie öffentlich sind, verleihen sie den Inszenierungen eine politische Grundierung. Es sind unsere Räume, es geht dort um uns, und es sind Orte, für die wir alle die Verantwortung tragen.«

Ich antworte, dass all diese Räume und Themen zwar eine realistische Grundlage haben, ihre Bühnenbilder und Szenarien jedoch oft voller Fantasie sind. Ist diese Diskrepanz für sie als Regisseurin produktiv?

Guiela Nguyen erläutert, dass diese zusätzliche Dimension der Phantasie beim Schreiben oder beim Gestalten des Bühnenbilds »die Haut der Wirklichkeit anheben« kann, rät mir aber davon ab, zu denken, es gäbe »auf der einen Seite die Realität und auf der anderen die Fiktion«. Vielmehr sagt sie: »Durch die Fiktion ist es mir gelungen, etwas über meine Realität zu verstehen und einzufangen, das mir die Realität selbst nicht beibringen konnte. Anders gesagt: Letztlich lehrt uns die Fiktion etwas über die Realität und die Realität etwas über die Fiktion. Genau genommen sind es zwei Brüder oder zwei Schwestern, die einander niemals loslassen.«

Ich fahre fort: »Sie haben über Räume gesprochen. Aber könnten Sie uns auch etwas über Ihr Interesse an Sprachstrukturen und Sprachpolitik erzählen? Das ist ein weiterer roter Faden, der sich durch Ihr Werk zieht.«

Sie nickt: »Als Autorin habe ich bemerkt, dass ich es mag, verschiedene Berufsjargons einzufangen. In ›VALENTINA‹ arbeite ich zum Beispiel mit Kardiolog_innen und der Sprache der Kardiolog_innen, und in ›LACRIMA‹ ist es die Sprache der Menschen, die Spitzen herstellen. Für mich ist Sprache der Ort, an dem man lebt. Als Hannah Arendt nach ihrer Heimat gefragt wurde, antwortete sie, dass ihre Sprache ihre Heimat sei. Sie gibt unseren sozialen Beziehungen ein Zuhause. Die Frage der Sprache im Zusammenhang mit Arbeit ist auch etwas, womit man sich als Autorin beschäftigen muss. Sie zwingt mich, genauer hinzuhören. Ich bin, zum Beispiel, nicht in der Lage, die Sprache eines Kardiologen zu erfinden, wenn ich ihm nicht vorher geraume Zeit zugehört habe. Aber dann erfinde ich sie neu und gestalte sie.«

»Ich kann mir vorstellen, dass in vielen Interviews versucht wird, Sie in irgendwelchen Schubladen einzusortieren«, merke ich an. »Welche Fragen werden Ihnen am häufigsten gestellt, und in welche Schubladen werden Ihre Arbeiten am häufigsten gesteckt? Begehe ich den gleichen Fehler? Und wie vermeiden wir diese Einordnung?«

»Nein, Sie begehen diesen Fehler nicht!« lacht sie. »Wenn meine Arbeiten beschrieben werden, werden sie häufig sofort mit denen männlicher Regisseure verglichen. Was mich immer wieder überrascht ist das Bedürfnis mancher Leute, Frauen mit Männern zu vergleichen. Meine Arbeit wird zum Beispiel mit der von Wajdi [Mouawad] verglichen. Ich mag Wajdis Arbeit sehr, das ist nicht das Problem. Seine Liebe zur Fiktion war tatsächlich sehr wichtig für mich. Aber warum dieser ständige Drang danach zu vergleichen?«

Sie fährt fort: »Aber am meisten ärgert es mich, wenn ich als ›humanistische‹ Regisseurin eingestuft werde. Als ob Vielfalt auf die Bühne zu bringen eine mitmenschliche Geste wäre und ich ein großes Herz hätte und es sehr großzügig von mir wäre, das zu tun. Das ist aber nicht so. Ich finde das sehr bevormundend und kolonial in Bezug auf die Menschen, mit denen ich arbeite.«

»Ist das eine Blindheit gegenüber dem politischen Impuls in Ihrer Arbeit?« frage ich.

»In Frankreich wird meine Arbeit als politisch anerkannt. Sie wird aber auch häufig als melodramatisch beschrieben. Nur weil es auch Tränen gibt, und Emotionen, und Violinen, bedeutet das noch lange nicht, dass ich Melodramen schreibe. Das schmälert die Gewalt, die meine Figuren erfahren. Nein, was ich schreibe sind Tragödien. Vietnam über Nacht zu verlassen ist eine Tragödie. Wenn man eine Ärztin aufsucht und nicht in der Lage ist, sich verständlich zu machen, und seine neunjährige Tochter bitten zu müssen, zu übersetzen, dann ist das eine Tragödie. Aber nach einer Weile verstehen die Menschen, dass das Gemeinsame all dieser Projekte die Würde der Menschen ist. Alle diese Figuren sind beeindruckend. Ja, sie sind Opfer, aber sie sind trotzdem würdevoll und stark.«

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Interview auf Französisch, Übersetzungen ins Englische von Joseph Pearson

LACRIMA

(Strasbourg)
von Caroline Guiela Nguyen
Regie: Caroline Guiela Nguyen
In einer Übersetzung von Nadia Bourgeois, Carl Holland, Rajarajeswari Parisot 

Premiere war am 05. April 2025