親愛的人生 (Dear Life)Foto: Yin-chieh-Chung
親愛的人生 (Dear Life), Foto: Yin-chieh-Chung 
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FIND 2023
Zwischen den Zeilen mit der Shakespeare’s Wild Sisters Group

von Joseph Pearson

12. April 2023

Ich bin zufälligerweise gerade in Taiwan, als die Schaubühne mich bittet, Wang Chia-ming zu interviewen, den Regisseur der avantgardistischen Theaterkompanie Shakespeare’s Wild Sisters Group aus der Hauptstadt Taipeh. Die Gruppe schickt mir ein Foto von ihrer unscheinbaren Eingangstür in einer dritten Etage, die ich durch ein Wirrwarr aus Schaufensterpuppen und Perücken in einem belebten Bekleidungsmarkt ausfindig mache. Es scheint wie ein Zaubertrick, dass ich mich hier hinter all dem hektischen Großstadtgetümmel plötzlich in einem weitläufig ausgelegten, mit Hartholz verkleideten Probenraum wiederfinde, und in den Büroräumen der Kompanie, die ein klein wenig über der Metropole zu schweben scheinen. Ich werde von Chia-ming, seinem Dolmetscher und weiteren Mitgliedern der Kompanie empfangen, und nach gegenseitigen höflichen Verbeugungen beginnen wir unsere Unterhaltung.

Wang Chia-ming ist expressiv und bedacht, sein Gesicht abwechselnd von Lächeln und Ideen überzogen. Die Tatsache, dass er einen kanadischen Text als Grundlage für das Theaterstück »親愛的人生« (»Dear Life«) genommen hat, macht mich neugierig. Der gleichnamige Kurzgeschichtenband stammt von der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro, und die darin beschriebenen Landschaften sind mir geläufiger (meine Familie lebt in Vancouver) als die satt-grünen Berge Taiwans, die wie tropische Plüschmonster aussehen, oder die glitzernde Enge von Taipeh. Wang Chia-mings »Dear Life« kam 2019 zum Festival d’Automne in Paris erstmalig nach Europa, und beim FIND 2023 wird das Stück seine Deutschlandpremiere feiern.

Er erzählt mir: »Kanada ist weit entfernt von uns, aber Ihnen ganz nah. Ich habe Geografie studiert und denke, dass die geografischen Unterschiede zwischen Taiwan und der von Munro beschriebenen Kulisse sehr groß sind. Die Jahreszeiten, die Landschaften – das alles ist sehr verschieden, nicht nur die Temperaturen. Ursprünglich wollte ich einfach Munros Geschichten auf die Bühne bringen, aber dann habe ich mir überlegt: Wie kann man diese Schauspieler bei all den Unterschieden in dieser von Munro geschaffenen Kulisse vor ein taiwanesisches Publikum treten lassen? Vielleicht ist es besser, wenn wir die Geschichten für Taiwan neu schreiben.«

Es begann für ihn aber nicht alles mit Alice Munro. Wang Chia-ming wusste, dass er vier Geschichten an einem Abend erzählen wollte, jede dreißig Minuten lang. Die Erzählweise von Alice Munro – von der er fast alles gelesen hat – lieferte dafür das treffende, beinahe Tschechowsche Medium.

»Ich habe etwas in ihrer Herangehensweise an Beobachtungen gesehen. Die Unterschiede zwischen dramatischem und erzählendem Schreiben, wie bei Kurzgeschichten, sind enorm in Bezug auf die Menge der Informationen, die in einer Vorführung verbal kommuniziert werden kann im Vergleich zu einem literarischen Werk. Was mich an Munro fasziniert hat, ist die Anzahl der Lücken oder Leerstellen in ihrem Erzählstil: Sie erlaubt den Leser_innen, ihre eigenen Geschichten zu entwerfen. Sie schreibt oft über die Landschaften. Das Beschreiben der Umgebung, zum Beispiel von Räumen oder Gegenständen, bringt uns den Figuren näher. Das erinnert mich an klassische chinesische Literatur, insbesondere die lyrische Tradition, in der wir häufig den Schauplatz beschreiben, damit das Publikum die Emotionen, die hinter dieser Szenerie stecken, verstehen kann, ohne dass über diese Emotionen direkt gesprochen wird.«

Dann verweist er auf ein Zitat aus den »Herbstgedanken« des Dichters und Dramatikers Ma Zhiyuan aus dem 13. Jahrhundert, »vertrocknete Reben, alter Baum, dunkle Krähen, kleine Brücke und strömendes Wasser«, als Beispiel für die hermetische, poetische Offenheit, die er anstrebt.

»Weil jede Geschichte nur dreißig Minuten lang ist,« erzählt er mir, »überlege ich mir jede Szene im Sinne dieser Gedichte. Wie kann ich ein kurzes Textbuch schreiben, das dennoch eine Menge Informationen zur Verfügung stellt, eine bestimmte Atmosphäre unter den Schauspieler_innen auf der Bühne erzeugt und genügend Leerräume für die Vorstellungskraft der Zuschauer_innen lässt? Bei der Auswahl einiger Geschichten aus Munros Buch habe ich die Schauspieler_innen gebeten, diese auf der Bühne durchzuspielen, damit wir sehen können, was genau das Minimum an Informationen ist, das wir dem Publikum geben müssen, damit es versteht, was auf der Bühne passiert. Und dann gibt es natürlich auch einen riesigen Unterschied in der erlebten Zeit beim Lesen von Erzählliteratur und im Theater...«

Chia-ming holt ein großes Stück Papier hervor, auf dem er vier Diagramme skizziert, von denen jede eine der vier Geschichten der Inszenierung repräsentiert. Sie erinnern an eine grafische Partitur.

»Die vier Geschichten sind nicht durch ihre Handlung miteinander verbunden, sondern eher musikalisch: Die Verbindung ähnelt einer musikalischen Struktur. Jedes Schema verweist sowohl auf die Bewegung der Schaupieler_innen auf der Bühne als auch auf die Dichte der Wörter, die sie verwenden. Auf diese Weise ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Sehen und Hören. Die erste der vier Geschichten erinnert an eine Kamerablende, die in vierzehn Einzelteile untergliedert ist. Bei der zweiten gibt es viele runde Tische auf der Bühne, um die herum sich Personen in einer geschwungenen Linie bewegen. In der dritten steht jemand in der Mitte ohne sich zu bewegen, während die vierte die vorherigen drei Schemata miteinander kombiniert. Das Ganze ergibt eine symphonische Struktur.«

Chia-mings Textbuch lässt Munros Handlung nicht in der örtlichen Besonderheit einer ländlichen Gemeinde in Ontario oder der Einsamkeit einer Großstadt in British Columbia spielen. Stattdessen entscheidet er sich für Taoyuan, eine eigenständige Stadt aber praktisch ein Vorort von Taipeh, in dem sich der internationale Flughafen befindet.

»Eigentlich ist dieser Ort ganz nah gelegen, er grenzt direkt an unsere Stadt, aber trotzdem kennen wir ihn überhaupt nicht, weil er überhaupt nicht touristisch ist. Wir sind eher mit Hualien oder Tainan oder anderen taiwanesischen Großstädten vertraut als mit so einer nahegelegenen Stadt. Aber wenn man den Flughafen verlässt, landet man in Taoyuan. Es ist ein sehr ungemütlicher Ort. Man fährt da nur hin, wenn man verreist. Wir fliegen immer vorbei, aber halten uns dort nie auf.«

»An diesem Ort versuche ich, das Augenmerk mehr auf weiblichen Figuren zu legen. Ich versuche auch, dem Textbuch etwas hinzuzufügen, mit dem die Schauspieler_innen vertraut sind, aber auch etwas, mit dem sie weniger vertraut sind. Für den Kontrast. In Munros Erzählung gibt es eine Szene, in der eine Frau mit dem Bus auf dem Weg ins Gefängnis ist um ihren Mann zu besuchen. Ich habe daraus ein Mädchen gemacht, das mit dem Bus in diesen Vorort von Taipeh zum Grab ihrer Mutter fährt. Trotzdem haben beide Geschichten etwas gemeinsam, was sehr oft bei Munro vorkommt: Die Reihenfolge, in der sie etwas schreibt, suggeriert häufig, dass irgendwann später etwas passieren wird, es hat aber tatsächlich schon stattgefunden.«

Wir haben uns jetzt schon über eine Stunde lang unterhalten und ich möchte meine Gastgeber nicht zulange beanspruchen. Auch freuen wir uns darauf, uns schon in einem Monat auf einem anderen Kontinent wiederzusehen. Trotzdem frage ich noch: »Gibt es irgendetwas, über das wir reden sollten, was wir noch nicht erwähnt haben?«

Wang Chia-ming lacht: »Ich hinterlasse Ihnen ein paar Leerstellen, damit Sie diese mit Ihrer Vorstellungskraft ausfüllen können.«

親愛的人生 (Dear Life)

(Taipeh)
Shakespeare’s Wild Sisters Group
von Wang Chia-ming
Regie: Wang Chia-ming
Saal A

Premiere war am 29. April 2023