FIND 2024
Marx lesen in einer Fabrik in der Toskana
Enrico Baraldi und Nicola Borghesi im Gespräch mit Joseph Pearson
von Joseph Pearson
05. April 2024
Nördlich der Renaissance-Stadt Florenz gibt es ein Industriegebiet. Dort produzierte eine Antriebswellenfabrik des Automobilzulieferbetriebs GKN Halbachsen für Autos und beschäftigte so vierhundert Arbeiter_innen – bis diese an einem Samstag, dem 9. Juli 2021, allesamt vor die Tür gesetzt wurden. Die Kündigung bekamen sie per E-Mail von der englischen Investmentfirma Melrose, die den Betrieb aufgekauft hatte. Dennoch kehrten die Arbeiter_innen an ihren Arbeitsplatz zurück: Sie stürmten das Eingangstor und warfen die Bodyguards hinaus, die die wertvollen Maschinen bewachten. Seit mehr als zweieinhalb Jahren besetzen sie nun das Werk. Um ihren Kampf geht es im Theaterstück der Gruppe Kepler-452, »Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto« [Das Kapital – ein Buch, das wir noch nicht gelesen haben], das beim FIND 2024 zur Aufführung kommt.
In Italien erregte die Besetzung des GKN-Werks öffentliches Interesse. Mittelitalien ist historisch gesehen das Kernland der Linken in Italien. Das ist auch heute noch so, selbst unter einer Landesregierung, die von einer neofaschistischen Partei angeführt wird. Von Bologna aus erläutert Koregisseur Nicola Borghesi: »Die Arbeiter_innenbewegung hat in Italien eine besondere Geschichte. Hier wurde ihre Flamme von der Asche des Liberalismus bedeckt, und der Abkehr von einer revolutionären, antikapitalistischen Aufgabe. Sozialdemokratische Bewegungen sind oft dann von Erfolg geprägt, wenn es einen Überfluss an Kapital gibt: Der Chef verdient ordentlich Geld und die Arbeiter_innen bekommen ein Trinkgeld. Aber in der Toskana und der Region Emilia Romagna gibt es immer noch eine starke Idealvorstellung zum Thema Umverteilung. Unter dem Trümmerhaufen der Linken schwelt immer noch die Glut der Solidarität und der Verweigerung, sich beherrschen zu lassen. In dem Willen, sich nicht herumschubsen zu lassen, steckt etwas zutiefst toskanisches.«
Diese Geschichte, in der sich die Arbeiter_innenschaft der eigenen Produktionsmittel bemächtigt, liest sich, als käme sie geradewegs aus Karl Marx’ Das Kapital. Koregisseur Enrico Baraldi verfolgt den Gedanken: »Aber was bedeutet es im Sinne von Marx’ Werk, wenn eine Fabrik, die immer noch funktionstüchtig ist, geschlossen wird und kein Kapital mehr generiert? Wir fanden das spannend und besuchten eine von den Arbeiter_innen organisierte Demo – und waren beeindruckt. Wir konnten ihre Leidenschaft spüren. Dieser Funke, diese Wärme, erzeugt von Menschen, die mit ihrem Protest eine Großfamilie gegründet hatten, schien so weit entfernt zu sein von der Kälte des sozialwissenschaftlichen Texts von Karl Marx. Wir fühlten uns, als überkäme uns eine Hitzewallung.«
Es dauerte nicht lange, bis die beiden Regisseure zu den Arbeiter_innen in die Fabrik zogen, wo sie – mit dem Kapital in der Hand – mit ihnen zusammen wohnten. Ich frage die beiden, wie die Arbeiter_innen sie aufgenommen haben, und Baraldi antwortet: »Diese Besetzung stellte ein bedeutendes Ereignis in Italien dar, weswegen viele Menschen in die Fabrik kamen, um ihre Solidarität zu zeigen. Die Arbeiter_innen waren verständlicherweise zurückhaltend, weil sie sich wegen möglicher Überwachung Sorgen machten, oder dass jemand in der Nacht kommen und Feuer legen, und damit die Besetzung zum Scheitern bringen könnte. Auch wir waren unter diesen vielen Leuten, aber irgendwie gab es für uns keine richtige Aufgabe. Wir sagten ihnen: »Wir sind eine Theatergruppe und würden euch gerne ein paar Fragen stellen«, und sie reagierten darauf, indem sie uns den Spitznamen »die Polizisten« gaben, weil wir immer herumgingen und Fragen stellten.«
Baraldi fährt fort: »Niemand konnte verstehen, was wir dort machten. Es war ihnen nicht klar, dass wir Arbeiter_innen als nicht-professionelle Schauspieler_innen in die Inszenierung einbeziehen wollten, oder wie wir es nannten, »Weltschauspieler_innen«, »Expert_innen des Alltags«. Es hat eine Weile gedauert, bis sie verstanden haben, dass das überhaupt möglich ist. Wir haben anderthalb Monate in der Fabrik gelebt. Anfänglich wohnten wir dort, wo die Autos gelagert wurden. Irgendwann, im Laufe der Zeit, begannen wir, uns mit ihnen anzufreunden und durften in ein Büro ziehen, wo es ein bisschen wärmer war. Es gab dort keine Duschen, und es war Winter.«
Die Regisseure erzählen mir, dass sich die Zusammenarbeit mit den Arbeiter_innen schwierig gestaltete. Borghesi beschreibt sie als »charaktervolle, starke, launenhafte, eindringliche Persönlichkeiten«. Erst durch viele Drinks und Gespräche spät in der Nacht entwickelten sie eine engere Beziehung.
Wie habt ihr ihnen dann Regieanweisungen gegeben?«, möchte ich wissen.
Borghesi antwortet: »Irgendwann haben wir sie dann eingeladen, ins Theater zu kommen. Wir saßen in der ersten Reihe und baten sie, uns gegenüber Platz zu nehmen. Nicht direkt auf der Bühne, sondern im Bereich zwischen Publikum und Bühne. Wir ließen sie uns wiederholt ihre Geschichten erzählen, ohne dabei einen Text festzuschreiben. Das haben wir erst ganz zum Schluss getan, aber es gab nie einen Zeitpunkt, an dem wir sie gebeten hätten, einen Text auswendig zu lernen – das wäre ein Fehler. Stattdessen arbeiteten wir mit Fragen und forderten sie auf, bei der Beantwortung immer mehr ins Detail zu gehen. Dann baten wir sie um Kürzungen. Daraus erstellten wir dann Geschichten-Bausteine, oder Module, aus denen wir dann ein Bühnenstück formen konnten.«
»Sind Arbeiter_innen gute Darsteller_innen?«, frage ich.
Borghesi lächelt: »Zu Beginn haben wir uns Gedanken darüber gemacht, dass die Arbeiter_innen in den Proben ein wenig an Schwung verlieren könnten, an Spontaneität oder Emotionalität, wenn sie dieselbe Geschichte immer wieder wiederholen, aber irgendwann haben wie begriffen: Arbeiter_innen sind Menschen, die wiederkehrende Handlungen am ehesten gewohnt sind, und immer dieselben wiederholten Handlungen. Das haben wir in der Inszenierung theoretisiert und herausgefunden, dass sie sogar noch besser sein können als manche professionellen Darsteller_innen.«
Auf der Bühne tauchen industrielle Requisiten auf und wir sprechen über deren Rolle in der Inszenierung. Baraldi erinnert sich: »Es gibt eine Szene, in der ein Arbeiter-Darsteller sich vorstellt und eine Halbachse in die Hände nimmt und sagt: »Das ist eine Halbachse.« Wir haben versucht, diese Szene mit einem Stück Holz zu spielen, weil wir keine Halbachse zur Verfügung hatten. Aber die Szene hat irgendwie nie funktioniert. Wir habe ihn gefragt: Warum funktioniert das nicht, Felice? Eines Tages brachten wir dann eine Halbachse auf die Bühne, und plötzlich funktionierte die Szene. Als Arbeiter konnte er nicht einfach so tun, als ob. Da haben wir festgestellt, dass ein paar reale Objekte der Geschichte eine gewisse Echtheit geben.«
»Das alles ist kurz nach der Corona-Pandemie passiert, die in Italien ja besonders grausam verlief. Hat das eure Arbeit auf irgendeine Weise beeinflusst?«, frage ich.
Borghesi entgegnet: »Im diesem Notfall, und das war die Pandemie, griff der Staat zutiefst in die individuellen und unternehmerischen Freiheiten ein. Er verlangte von den Menschen, zuhause zu bleiben. Aber Italien war auch eins der wenigen Länder, in denen es nicht erlaubt war, Angestellte zu entlassen – für kurze Zeit gab es ein Recht auf Arbeit. Und wir dachten, es ist ja gar nicht unmöglich für den Staat, so stark in die Wirtschaft und deren gesellschaftliche Aspekte einzugreifen. Das ist während einer Notlage passiert, was es den Menschen ermöglicht hat, es zu akzeptieren. Aber wie ist es plötzlich möglich, jeden Morgen aufzuwachen und das tun, was wir wollen, in einer Welt, in der nicht möglich ist, das zu tun, was man will? Wir haben einen Eingang zum Sozialismus erlebt: Der Staat kann sich für die Produktion entscheiden und die Anzahl der Arbeiter_innen bestimmen, jenseits persönlicher Freiheiten. Das hat uns natürlich gefallen!«
»Was euch zu Marx und der Besetzung des GKN-Werks bringt...«, sage ich, und schließe damit den Kreis zum Beginn unseres Gesprächs.
»Wir haben schon immer politisches Theater gemacht, aber immer als dessen Erzähler oder Beobachter. Somit hat uns, glaube ich, die Pandemie geholfen. Sie hat dafür gesorgt, dass wir als Theatermacher begriffen haben, dass wir nicht einfach nur berichten können. Wir müssen uns klar positionieren. Wir müssen Teil eines Kampfes sein.«
Das Interview fand auf Italienisch statt. Übersetzung ins Englische von Joseph Pearson, Übersetzung ins Deutsche von Johannes Kratzsch.
Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto
von Kepler-452
Regie: Kepler-452/Enrico Baraldi & Nicola Borghesi
Gastspiel FIND 2024
Bologna
Premiere war am 20. April 2024
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