FIND 2023
Ein Gespräch mit der neuen Generation des iranischen Theaters
Parnia Shams bringt »Ist« an die Schaubühne
von Joseph Pearson
12. April 2023
In dem Stück »است« (»Ast«, oder »Ist« auf Deutsch), das 2019 bei einem Universitäts-Theaterfestival seine Premiere feierte, geht es um brisante Themen wie Machtmissbrauch im Klassenzimmer und den Vorwurf der homosexuellen Begierde. Vier Jahre später sitzt Parnia Shams, die 1996 geborene Regisseurin der Inszenierung, in Teheran während ich ihr von Berlin aus Fragen stelle. In wenigen Wochen wird sich diese Distanz in Luft auflösen, wenn sie nach Berlin kommt, um »Ist« beim diesjährigen FIND an der Schaubühne aufzuführen.
Shams denkt an die erste Vorstellung in Teheran zurück: »Wir hatten geprobt, aber ohne Bühnenbild!«, erklärt sie mir. »Es kam erst zwei Stunden vor der Vorstellung bei uns an. Und Sie können sich vorstellen, wie nervenaufreibend das war, in dieser Situation das erste Mal mit der Bühnenkonstruktion zu arbeiten, sich da kurz vor der Premiere im Rahmen des Theaterfestivals kopfüber hineinzustürzen. Ich bin einfach in Panik geraten. Ich war so gestresst, dass ich mich in der Regiekabine, von der aus die Beleuchtung gesteuert wird, eingeschlossen habe und gesagt habe: Alle müssen jetzt weggehen, sofort!«
»Nach der Vorführung«, erzählt sie weiter, »war ich fast schon zuhause angekommen, als mich eine_r der Juror_innen des Festivals anrief und sagte, dass die Vorstellung gut war, und dass sie sich darüber unterhalten und dass ich vorbeikommen solle. Es fiel mir nicht leicht, dort hinzugehen, aber dann bemerkte ich, wie viele positive Rückmeldungen es zu der Vorstellung gab. Letztendlich gewannen wir auf dem Festival vier Auszeichnungen: für die Darstellung, die Regie, den Text – und das Bühnenbild!«
Shams erläutert, wie das Stück dann einen Monat lang in einer Spielstätte in Teheran aufgeführt wurde und später u.a. beim größten Theaterfestival in Iran, Fadjr, bevor es auf Europatournee ging, zuerst nach Brüssel zum Kunstenfestivaldesarts und dann ins Piccolo Teatro in Mailand.
»Wie sind Sie zur Teheraner Theaterszene gekommen?«, frage ich sie.
Sie antwortet: »Mein Bruder, der fünfzehn Jahre älter ist als ich, studierte an der Universität in Teheran Theater. Als ich noch jünger war, habe ich mitbekommen, wie er und seine Kommilitonen gemeinsam Proben organisiert haben. In dieser Gemeinschaft einer jungen Generation von Theatermacher_innen in Teheran aufzuwachsen hat meine Liebe für das Theater geweckt.«
Nach einigen schauspielerischen Arbeiten und ihrer ersten eigenen Inszenierung (»Tatavor«) im Jahr 2018, die mehrfach ausgezeichnet wurde, begann sie, an ihrem zweiten Stück zu arbeiten. »Ist« spielt in einer privaten Mädchenschule in Iran und schildert, was passiert, wenn zwei Mädchen einer Freundschaft beschuldigt werden, die als »abartig« angesehen wird.
Parnia Shams erklärt mir: »Wir haben das Stück 2018 entwickelt, während ich noch an der Universität studierte. Die meisten meiner Darstellerinnen hatten selbst gerade erst die Schule abgeschlossen. Die Nähe der Darstellerinnen zu ihren eigenen schulischen Erfahrungen war sehr wichtig. Ich selbst kannte diese Situation nur von außen und wollte, dass Leute, die da näher dran sind, dem Stück seine Authentizität geben.«
»Wie haben Sie den Text geschrieben?«, frage ich.
»Bis zu den Endproben hatten wir gar kein Textbuch«, erwidert Shams. »Stattdessen haben wir in der Gruppe die Erlebnisse – und Erinnerungen – der Darstellerinnen gemeinsam ausgearbeitet, um daraus ein Stück zu entwickeln. Wir haben kleine Szenen improvisiert und die Proben gefilmt – jeweils vier bis fünf Stunden – und basierend auf diesen Aufnahmen habe ich dann angefangen, die einzelnen Szenen für die Vorstellung zu schreiben. Es gibt allerdings auch ein paar Szenen, die ich von Anfang an dabei haben wollte. Die Grundidee, ein Stück über Mädchen zu machen, die sich bei Erwachsenen für etwas entschuldigen müssen, das sie gar nicht getan haben, nur um nicht von der Schule ausgeschlossen zu werden, hatte ich schon vorher.«
»Die Autoritätsfiguren sind allerdings in der Vorführung gar nicht zu sehen«, merke ich an.
»Das stimmt, und es gibt zwei Gründe, warum wir keine erwachsenen Figuren wie Vertreter_innen der Schule in die Inszenierung aufgenommen haben«, erklärt sie mir. »Ich hatte einerseits das Gefühl, dass das Szenarium ansonsten klischeehaft werden könnte. Aber es geht in dem Stück auch vor allem um die Vollstrecker_innen von Gewalt und Unterdrückung. Und diese nicht auftreten zu lassen, kann deren Gewalt umso sichtbarer machen. Durch diesen Ausschluss wird sie noch verstärkt. Man spürt ihre Gegenwart durch die Arbeit der Darstellerinnen – ihr Umgang miteinander unterscheidet sich je nachdem, ob die Erwachsenen dabei sind oder nicht, und dieser Unterschied macht die Macht der Vollstrecker umso stärker spürbar.«
»Das Ergebnis ist sehr naturalistisch«, stelle ich fest, »aber ich frage mich, wie Sie das erreichen. Naturalismus auf der Bühne ist ja eben alles andere als natürlich: er ist eben auch Einbildung...«
Sie entgegnet: »Ja, aber diese Umsetzung war viel unkomplizierter, als Sie sich das vielleicht vorstellen. Ich entschied mich dafür, mit Leuten zu arbeiten, die nicht besonders professionell waren, aber wir haben in den gemeinsamen Workshops sehr eng zusammengearbeitet. Ich selbst war auch nicht besonders professionell, wollte aber einen Raum schaffen, in dem alle zusammenkommen und sich wohlfühlen können. Die Dynamik zwischen den Darstellerinnen hat so funktioniert, dass alle das Gefühl hatten, das Stück gehöre ihnen. Und diese Mischung aus Arbeitsatmosphäre, gemeinsamer Verständigung und Beziehung hat bewirkt, dass es in dem Moment, wo man es auf die Bühne bringt, auch eine Eigendynamik entwickelt hat.«
Ich frage, inwieweit das Stück im Ausland anders aufgenommen wurde als in Iran.
»Das ist eine gute Frage. Unsere Darstellerinnen tragen alle Kopftücher, und das gehört für uns zur Standardschuluniform. Geschlechtertrennung in Schulen ist für uns auch völlig normal. Für ein europäisches Publikum war das allerdings schon etwas schockierender – ein Hindernis, das es ihnen erschwerte, sich den anderen Ebenen des Stücks zu öffnen. Diese vordergründige Ebene war für sie neu und ablenkend, aber es war auch etwas, worüber ich mir vorher noch nie Gedanken gemacht hatte oder das ich überhaupt als erwähnenswert erachtet hätte. Aber die Anmerkungen dazu, die wir erst in Belgien und dann in Italien bekommen haben, waren nützlich, und ich kann nachvollziehen, dass das Stück zuhause anders ankommt als im Ausland.«
»Ich kann mir aber auch vorstellen, dass der Druck in der Heimat ein ganz anderer ist, insbesondere im Zuge der Frauenprotestbewegung, die wir im letzten Jahr gesehen haben«, merke ich an und beziehe mich damit auf die Demonstrationswelle, die Iran im letzten Herbst nach dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini im Polizeigewahrsam erschüttert hat.
»Das war auch etwas, das wir während des Probenprozesses diskutiert haben. Wie würde unser Stück aussehen, wenn wir nicht die Möglichkeit zensiert zu werden in Betracht ziehen müssten; wenn wir nicht darüber nachdenken müssten, das Stück für ein öffentliches Publikum akzeptabel zu gestalten (weil die Behörden unsere Vorstellungen auf jeden Fall kontrollieren)? Genau genommen denke ich nicht, dass es sehr unterschiedlich ausfallen würde: Wir würden uns trotzdem mit denselben Themen auseinandersetzen, demselben Druck, derselben Obrigkeit im Schulsystem, demselben »Auge«. Was den Druck betrifft, fällt mir als Erstes ein, wie stark Covid die iranische Theatergemeinschaft getroffen hat. Die Theater waren die ersten Orte, die geschlossen wurden, und die letzten, die wieder geöffnet wurden. Und dann, als die Frauenprotestbewegung begann, wurden Theaterinszenierungen wieder gestoppt. Wegen dieser Unruhen und der wirtschaftlichen Turbulenzen im Land ist eine stetig geringer werdende Anzahl an Inszenierungen in Iran zu beobachten, weil sich die Leute in erster Linie einfach darum sorgen, arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen zu können.«
Shams führt weiter aus: »Momentan gibt es aber auch eine zunehmende Anzahl an Untergrund-Vorstellungen, weil es Leute gibt, die ihr kreatives Schaffen wegen der Zensur nicht mehr innerhalb des Systems verwirklichen wollen. Viele von ihnen möchten trotzdem gern gestalterisch tätig sein und einen Raum damit ausfüllen, und in diesen Untergrund-Vorstellungen befolgen sie nicht die Kopftuchregeln und können sagen, was sie wollen. Das ist nicht besonders öffentlich, wie man sich vorstellen kann. Es gibt dort ein kleineres Publikum, aber genauso wollen sie das auch haben. «
Die Deutschlandpremiere von »است« findet am 26. April 2023 statt.
Mit Dank an Raha Rajabi für ihre Übersetzungen aus dem Farsi ins Englisch
است (ist)
(Teheran)
von Parnia Shams und Amir Ebrahimzadeh
Regie: Parnia Shams
Globe
Premiere war am 26. April 2023
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