Manifesto Transpofágico, Foto: © Danilo Galvão 
Manifesto Transpofágico, Foto: © Danilo Galvão 
Manifesto Transpofágico, Foto: © Danilo Galvão 
Manifesto Transpofágico, Foto: © Danilo Galvão 
Manifesto Transpofágico, Foto: © Danilo Galvão 
 

Mit Trans*Stereotypen im Theater aufräumen: Ein Weltverbesserungskampf
Renata Carvalho auf der Bühne an der Schaubühne

von Joseph Pearson

24. April 2024

Renata Carvalho ist Vieles: Schauspielerin, Trans-Aktivistin, Wortschöpferin und Gesellschaftswissenschaftlerin. Ihr Theaterstück »Manifesto Transpofágico«, unter der Regie von Luiz Fernando Marques, wird beim Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) 2024 an der Schaubühne zu sehen sein. An diesem Berliner Theater verkündet es nicht nur die Botschaft einer besseren Repräsentation von Trans*Menschen in der Kultur- und Kreativwirtschaft, es liefert auch gleich einen Plan zur Umsetzung.

Carvalho unterhält sich mit mir von ihrem Büro in São Paulo aus. Ich bitte sie, mir von den Herausforderungen zu erzählen, mit denen sich Trans*Menschen in Brasilien konfrontiert sehen, und sie zieht eine Augenbraue hoch und erklärt mir, dass Brasilien für Trans*Menschen der tödlichste Ort der Welt ist (laut Recherchen des Trans Murder Monitoring-Projekts). Dort werden mehr Trans*Menschen ermordet als in irgendeinem anderen Land. Die zweithäufigste Todesursache ist Selbstmord. Laut der Nichtregierungsorganisation TransVest leben 90% aller brasilianischen Trans*Menschen in Prostitution, und die Lebenserwartung von Trans*Menschen liegt bei nur 30 Jahren. Es ist ein hartes Umfeld, und eins, das Carvalho bestens kennt.

Sie erzählt mir, dass sie in ihren Zwanziger Jahren damit begonnen hat, die Herausforderungen, vor denen Trans*Menschen – oder »travesti«, wie sie in Brasilien genannt werden – stehen, aus anthropologischer Perspektive zu erforschen:

»Ich habe mit Trans*Sexarbeiter_innen gearbeitet. Ich habe auch selbst als Prostituierte gearbeitet, als mich meine Eltern aus ihrer Wohnung geworfen haben. Warum fing ich damit an, meinen Körper und andere Trans*Körper zu erkunden? Ich wollte verstehen, warum meine Mutter, mein Vater, meine Cousins und Tanten aufgehört haben, mich zu lieben. Und ich wollte das Narrativ ändern, das ich aus Büchern kannte, in denen immer nur von der historischen Ausgrenzung unserer Körper die Rede war, davon, warum Trans*Körper sittenwidrig und kriminell sind.«

Carvalho versuchte, sich als Profi in der brasilianischen Theaterwelt zu behaupten, musste aber feststellen, dass sie auf Schritt und Tritt mit Stereotypisierung und Entmenschlichung zu kämpfen hatte: »Wenn ich auf der Bühne über meinen Körper spreche, dann geht es um einen Körper, der Zensur und Vergeltungsmaßnahmen erlitten hat, weil es kein Körper ist, der innerhalb der Parameter des Theaters akzeptiert wird. Lange Zeit musste ich hinter den Kulissen arbeiten, als Maskenbildnerin oder in der Technik, wenn ich im Theaterbereich involviert sein wollte. Ich ging hinter die Bühne, weil die Sichtbarkeit meiner Weiblichkeit auf der Bühne nicht akzeptierbar war.«

2016 sorgte Carvalho für Schlagzeilen, als sie in einem Stück mit dem Titel »The Gospel According to Jesus, Queen of Heaven« (»Das Evangelium nach Jesus, der Königin des Himmels«) Jesus spielte. Sie erzählt mir davon, wie das Stück fünfmal der Zensur zum Opfer fiel, wie sie jeden Tag Todesdrohungen erhielt und mit einer kugelsicheren Weste auftreten musste. Das technische Team und andere an der Inszenierung beteiligte Personen waren auch Angriffen ausgesetzt wegen der öffentlichen Gegenreaktion auf die Tatsache, dass eine Trans*Person diese religiöse Figur spielte.

Carvalhos Erlebnisse führten letztlich 2017 zur Gründung einer landesweiten Bewegung für Trans*Künstler_innen namens MONART, für die sie das Trans*Repräsentativitäts-Manifest schrieb. Ich frage sie nach den Zielen dieser Organisation und sie antwortet, dass ihre Ziele »groß, universell und grenzüberschreitend« sind. Und tatsächlich sagt sie, dass sie sechs Jahre nach der Veröffentlichung des Manifests anfängliche Erfolge der brasilianischen Bewegung sogar in anderen Ländern wie Italien, Frankreich, Portugal, Chile und Rumänien erkennen kann.

»Was will deine Organisation erreichen?«, möchte ich wissen.

»Wir fordern die dauerhafte Einbeziehung von Trans*Vertreter_innen im kreativen Bereich. Was wir wollen ist ein Stopp von Transfakes, also wenn cisgeschlechtliche Schauspieler_innen Trans*Darsteller_innen spielen. Wir verlangen, dass Transfake-Praktiken dreißig Jahre lang eingestellt werden, um es Trans*Menschen zu ermöglichen, in jedem künstlerischen Bereich vertreten zu sein. Wir können nur dann einen Schritt hin zur Gleichberechtigung machen, wenn wir alle zusammen am selben Ort sind. Nur dann können unsere Körper unsere Menschlichkeit zurückerlangen. Dieses Manifest ist nicht nur eine Bühnenshow, es ist mein Lebenszweck: das Aufräumen mit Trans*Stereotypen im kreativen Bereich.«

»Was sagst du zu den Leuten, die meinen, jede_r Darsteller_in sollte dazu fähig sein, jede Rolle zu spielen?«, frage ich.

Renata sagt: »Darauf lässt sich ganz einfach antworten. Erstens müssen wir darüber reden, wer diese Leute sind, die jede Person verkörpern können, denn ich, als Trans*Mensch, kann nicht einfach irgendjemanden auf der Bühne darstellen. Wenn ich Julia spiele, wird mich niemand als jene cisgeschlechtliche Frau ansehen, die Shakespeares dramatischen Bogen durchläuft. Meine Julia wird immer ein Trans*Mensch sein. Stell eine Trans*Julia und einen übergewichtigen Romeo auf die Bühne und das Publikum denkt, dass du Shakespeare dekonstruierst. Erst wenn ich eine cisgeschlechtliche schwangere Frau spielen kann, die von einem hübschen Kerl romantisch umworben wird, und es niemandem komisch vorkommt, ist es allen erlaubt, alle Figuren zu spielen. Die heutige Realität – aufgrund von gesellschaftlichen Konstrukten und Religion – ist aber, dass Trans*Menschen im Bereich der Kunst stereotypisiert und hypersexualisiert werden. Von keiner Person, die einen Körper hat wie meinen, wird angenommen, dass sie intellektuelle und künstlerische Initiative zeigt. Die Kunstszene des 21. Jahrhunderts muss dafür geradestehen, dass sie diese Vorurteile wiederherstellt.«

Carvalho erfindet gerne Bezeichnungen, wie sie mir während unseres Zoom-Gesprächs erzählt: »Es gibt so viele wichtige Dinge, die keine Bezeichnung haben, und solange sie keinen Namen haben, können wir nicht gegen sie ankämpfen. Ich nenne meine große Bibliothekssammlung aus akademischen und künstlerischen Werken zum Thema Trans*Körper »Travesteca«. Und meine anthropologische Arbeit nenne ich »Transpology«. Wir müssen, in den Worten von Roland Barthes, »die Sprache überlisten«.«

Aber ihr Aktivismus zeigt sich nicht nur in ihrer organisatorischen Arbeit, ihren Manifesten und ihrer Sprache. Er gipfelt in ihren mitreißenden Stücken. Ich sage: »Dein Stück beim FIND 2024 ist aktivistisch, aber gehe ich recht in der Annahme, dass ein Großteil dieses Aktivismus pädagogisch ist?«

Carvalho erwidert: »In »Manifesto Transpofágico« erörtere ich zunächst die Geschichte von Trans*Körpern. Aber dann unterbreche ich das und durchbreche die vierte Wand indem ich das Publikum anspreche: Jetzt, wo ihr den geschichtlichen Verlauf erkennen könnt, lasst uns darüber reden. Ich lade zum Nachdenken ein.«

Ich entgegne: »Ich könnte mir vorstellen, dass Menschen, die in ihrem Umfeld nicht viel über Trans*Lebensläufe lernen können, oder die den Unterschied zwischen Geschlechtsidentität und biologischem Geschlecht nicht verstehen, Angst davor haben Fehler zu machen, z.B. die falschen Pronomen zu verwenden. Wieviel Spielraum gibst du diesen Menschen?«

»Zunächst einmal verwende ich gewaltfreie Kommunikation. Ich muss oft sagen, dass ich euch unterstütze und euch liebe. Fühlt euch umarmt! Ihr seid hier sicher. Wir alle werden etwas dazulernen. Macht euch keine Sorgen darum, Fehler zu begehen. Das hier ist der perfekte Ort dafür. Aber dann fange ich an, provokante Fragen zu stellen, und zeige ihnen, dass es gar nicht so schlimm ist, diese zu diskutieren. Ich versuche, ihnen wissenschaftlich aufzuzeigen, dass ein Großteil von Transphobie und Homophobie aus Fake News herrührt, und dass wir mehr detaillierte und sachkundige Gespräche brauchen, und weniger Mutmaßungen. Aber natürlich hat das alles auch seine Grenzen. Zum Beispiel gibt es manchmal Situationen, in denen irgendein cisgeschlechtlicher Typ ausfallend wird, das kann ich natürlich nicht zulassen.«

»Was glaubst du, nehmen die Menschen am Ende für sich mit, wenn sie deine Arbeit und deinen Körper auf der Bühne sehen?«, frage ich.

»Ich weiß nicht, was die Zuschauer_innen lernen. Es wäre anmaßend zu behaupten, dass jede_r etwas aus meiner Show mitnimmt. Aber ich weiß, dass wenn Trans*Personen ihre Familien in meine Show mitnehmen, dann fangen Eltern möglicherweise an, ihre Kinder mit dem korrekten Pronomen anzureden. Dieser Kampf ist tatsächlich ein pädagogischer: Leute haben nicht alle erforderlichen Informationen, und viele davon sind vorurteilsbehaftet. Aber ich bin motiviert. Ich kämpfe, weil ich die Welt verbessern möchte.«

Mit Dank an Ariane Cuminale für Übersetzungen aus dem brasilianischen Portugiesischen.
Übersetzung auf Deutsch von Johannes Kratzsch.

Manifesto Transpofágico

von und mit Renata Carvalho
Regie: Luiz Fernando Marques
Gastspiel FIND 2024
São Paulo

Premiere war am 27. April 2024

Trailer