Aus Liebe zu Schauspieler_innen
Thomas Ostermeiers Inszenierung von Tschechows »Die Möwe« an der Schaubühne
von Joseph Pearson
21. Februar 2023
Tschechows Stück über das Stückeschreiben bietet sich für Insiderwitze geradezu an. Beispielsweise wenn man die Rolle des namhaften Schriftstellers Trigorin mit Joachim Meyerhoff besetzt, einem renommierten Autoren. Oder die Rolle des jungen Konstantin, alias Kostja, der das Stück im Stück schreibt, mit Laurenz Laufenberg, Verfasser des Stücks im Stück dieser Inszenierung. Oder die Rolle der Nina mit Alina Vimbai Strähler, nur wenige Jahre nachdem diese mit Ninas Rede aus dem letzten Akt für das Ensemble der Schaubühne vorgesprochen hat.
Anton Tschechows 1895 entstandenes Stück »Die Möwe« spielt in einem Landhaus im Russland der Zarenzeit. Der junge Kostja schreibt an einem Schauspiel, das er selbst als innovativ versteht, und das von Nina, einem Mädchen vom benachbarten Landsitz, in das er verliebt ist, aufgeführt wird. Das Stück kommt bei den älteren Teilen seines Publikums nicht gut an, insbesondere seine Mutter, die pompöse Schauspielerin Arkadina (gespielt von Stephanie Eidt) und der nur auf seinen Vorteil bedachte Schriftsteller Trigorin verschmähen es. Das führt zur Krise und zur Tragödie. Als Tschechow »Die Möwe« schrieb, war er selbst beschwingte 35 Jahre alt, und sein Kostja ist ein Verfechter der »neuen Form« dramatischer Dichtkunst. Es überrascht kaum, dass die moralische Ambivalenz des Stücks – das Verzichten auf didaktische Vermittlung und andere literarische Elemente des 19. Jahrhunderts – das zeitgenössische Publikum bei der Premiere irritierte. Die Erstaufführung war eine Katastrophe.
»Die Möwe« wird gelegentlich als Stück diskutiert, in dem es um einen Konflikt zwischen verschiedenen Generationen von Theatermacher_innen geht, aber Ostermeiers Schaubühnen-Inszenierung aus dem Jahr 2023 bemüht sich nach Kräften, das Stück aus einer anderen Blickwinkel anzugehen: man spricht hier über Liebe.
Ich treffe die leitende Dramaturgin der Schaubühne und Theaterautorin Maja Zade, die mir erzählt: »Wir betrachten die Liebe und ihre Variationen, ihre verschiedenen Schattierungen, beispielsweise ob man frisch verliebt ist, oder ob sie erwidert wird oder nicht. Wir versuchen, bei diesen Unterschieden ganz genau hinzusehen. Dass wir uns auf die Liebe und auf die Schauspieler_innen konzentrieren, ist eine ganz bewusste Entscheidung. Wir hantieren mit Schauspieler_innen und mit Text. Menschen agieren zusammen in Szenen.«
Die Figuren in Tschechows Stück suchen für gewöhnlich dort nach Liebe, wo sie ihnen verwehrt wird, und weisen sie zurück, wenn sie ihnen dargeboten wird. Zade verweist auf das Paradebeispiel: die Beziehung zwischen dem ambitionierten Kostja und seiner arrivierten und berühmten Mutter Arkadina.
»Ich glaube, dass Kostjas Beziehung zu seiner Mutter von zentraler Bedeutung ist: die Liebe seiner Mutter zu wollen und sie nie ganz zu bekommen. Wir können davon ausgehen, dass sie als berufstätige Mutter nicht immer für ihn da war. Und dass das der Grund dafür ist, dass er sein Liebesbedürfnis mit den Emotionen eines kleinen Kindes ausdrückt, den Eifersuchtsanfällen gegenüber Trigorin. Nicht nur, weil Trigorin ihm die Mutter wegnimmt, sondern auch, weil sich Trigorin schlechterweise auch noch in Nina verliebt. Kostjas Liebe zu Nina ist auch mit seinen kreativen Ambitionen verbunden. Als Schauspielerin erfüllt sie seinen künstlerischen Traum. Am Ende ist Kostja wegen dieser beiden Dinge verzweifelt: Seine Mutter achtet ihn nicht als Künstler, und Nina ist weiterhin in Trigorin verliebt und kann sich immer noch der Hoffnung auf eine schauspielerische Karriere hingeben, während sich Kostjas Träume in Luft aufgelöst haben. Er begreift, dass er weder Liebe auf privater Ebene, noch Erfolg auf künstlerischer Ebene erfahren wird. Und beides zerbricht ihn. Aber diese zwei Dinge stehen zueinander in Beziehung: Man erkennt, dass diese Figuren Kunst erschaffen, weil sie geliebt werden wollen.«
Ich erwidere: »Lass uns noch einmal auf den Moment am Anfang des Stücks zurückkommen, in dem Kostja mittels seiner Kunst einen Schritt auf seine Mutter zugeht: das Stück, das er im ersten Akt den anderen Schauspieler_innen vorspielt. Ich habe nicht den Eindruck, dass Tschechow sich über Kostja lustig macht. Ich habe aber das Gefühl, dass Kostja als Künstler sehr unerfahren ist und sein Potenzial noch entwickeln muss. Tschechow lässt Kostja ein symbolistisches Stück schreiben, aber das kann in einer Inszenierung, die im Jahr 2023 angesiedelt ist, wohl kaum als Herausforderung gelten. Wie löst ihr dieses Problem in euerm Stück?«
Zade entgegnet: »Die Sache mit dem Theaterstück ist ganz schön knifflig. Man will es ja schon der Gegenwart anpassen, aber die heutigen Konflikte spielen sich eben nicht zwischen Naturalismus und Symbolismus ab. Man möchte da schon geschickt mit umgehen, aber eben nicht zu offensichtlich. Laurenz hat diese Herausforderung tatsächlich angenommen und das Stück im Stück selbst geschrieben und großenteils unabhängig mit Alina geprobt.«
»Ich habe gehört, dass ganz allgemein den Schauspieler_innen in dieser Inszenierung viel Freiheit beim Erarbeiten ihrer Zeilen gelassen wurde, quasi in einer Abkehr vom Regietheater in Richtung Stückentwicklung,« füge ich hinzu.
»Ja, es gab einen Anpassungs- und Neuschreibungs-Prozess, wie wir ihn noch nie vorher hatten. Üblicherweise bereiten wir eine Textfassung im Voraus vor und gehen dann damit in die Proben. Aber hier haben die Schauspieler_innen ihre Texte umformuliert, mit der Maßgabe, so nah wie möglich am Original zu bleiben aber mit der Freiheit, sie persönlicher zu gestalten. Ich fand es interessant zu sehen, wie die Schauspieler_innen damit umgegangen sind: Manche haben nur ein, zwei Wörter verändert, andere wiederum haben sich richtig ins Zeug gelegt. Das schafft ein Gefühl von Mitautorschaft an dem Stück. Und man muss natürlich ganz viel mit den anderen Darsteller_innen über die eigenen Änderungen reden, denn das, worum es in der Szene eigentlich geht, kann sich sonst ganz schnell ändern.«
Ich erwidere: »Das muss für die Dramaturgin der Inszenierung ganz schön zeitaufwendig sein...«
Zade antwortet: »Ja, mehr als gewöhnlich. Wir hatten ursprünglich angenommen, dass das Textbuch in zwei Wochen stehen würde, aber am Ende hat es viel länger gedauert. Die Schauspieler_innen müssen ja vieles eher auf der Bühne ausprobieren als auf dem Papier. Unterdessen sitze ich buchstäblich mit zwei verschiedenen Versionen daneben – der Tschechow-Übersetzung und unserer Fassung – und behalte im Auge, ob die Wörter zu weit vom Original abweichen. Für Thomas [Ostermeier] ist das eine sehr lockere und großzügige Art der Regieführung – zu sagen: der Text ist auch dein Verantwortungsbereich.«
Wir sprechen auch über die technischen Gesichtspunkte der Inszenierung. Ostermeier hat »Die Möwe« schon früher auf die Bühne gebracht, 2013 in Amsterdam und 2016 in Lausanne. Doch diese Version ist eine völlig neue, inklusive des Bühnenbilds, das eine neue Sitzanordnung im Saal B beinhaltet, bei dem die Hälfte des Zuschauerraums abgesperrt wird und die Zuschauer_innen im Kreis auf der Bühne sitzen. Ein riesiger Baum beherrscht den Raum und erhebt sich über dem Publikum. Das schafft eine ziemlich vertrauliche Atmosphäre.
»Man ist unglaublich nah an den Schauspieler_innen dran, was auch für das Schauspielen eine große Herausforderung darstellt. Alles muss um so vieles genauer und kleiner sein, in dem Maße, dass es gar nicht mehr theatralisch wirkt,« sagt Zade.
»Was ich an Tschechow mag,« sage ich, »sind die ungeheuer intimen Welten, die seine Figuren mit nur wenigen Zeilen erschaffen – .«
»Ja, wir haben viel darüber gesprochen, dass seine Szenen impressionistisch sind. Es gibt einen kleinen Farbtupfer, aber darunter lauert ein Eisberg. Ein winziger Moment, eine klitzekleine Szene, die im Nu vorbei ist, aber es steckt so viel dahinter.«
Sie fährt fort: »Ich glaube, ›Die Möwe‹ ist sein bestes Stück. Das liegt daran, dass es viel dichter ist als die anderen. Es passiert viel mehr, ist viel rasanter. Es ist unglaublich, wieviel Hintergrundgeschichte jede einzelne Figur hat. Selbst kleinere Figuren sind scheinbar vollständig ausgearbeitet. Das ist uns klar geworden, als wir mit dem Umformulieren anfingen. Sobald man etwas hinzufügt, löst sich der Rhythmus auf. Da bemerkt man erst, wie gut das Stück ist: sein Rhythmus, sein Tempo. Ich glaube, wir haben tatsächlich nichts gekürzt – was man normalerweise machen würde – weil sonst etwas verloren gehen würde. Es ist ziemlich kurz, weil es ziemlich rasant ist, man muss also gar nichts loswerden. Es ist ein Klischee, dass alle Regisseur_innen, die das Stück inszenieren, sagen, es sei eine Komödie. Aber immer wenn ich es gesehen habe, war es das gar nicht. In unserer Version ist es sehr humorvoll. Das ist das Geniale daran: Es ist tottraurig aber trotzdem wahnsinnig witzig. Man erkennt sich selbst wieder und entdeckt, wie der Schmerz und das Komische miteinander verwoben sind.«
So wunderbar es auch gearbeitet sein mag, jedes Stück, das 1895 geschrieben wurde, aber in unserer Gegenwart angesiedelt ist, dürfte unter der Übertragung leiden. Meine letzte Frage an Zade ist deshalb, wie »Die Möwe« aus feministischer Perspektive zu betrachten ist.
Zade antwortet: »Es ist erstaunlich zeitgemäß. Es ist eines der wenigen Stücke aus der Zeit, bei denen ich denke: Frauen sind auch heute noch so. Was bei Inszenierungen häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass es hier zwei Künstlerinnen gibt, Nina und Arkadina, die beide einen Beruf haben. Und man hat den Eindruck, dass die anderen Frauenfiguren, die das nicht haben, viel glücklicher wären, wenn sie irgendein anderes Ventil hätten. Eine Anstellung oder eine Berufung. Ich denke, es ist eine Frage der Interpretation, aber ich glaube, dass Nina und Arkadina starke Figuren sind, Kämpferinnen, trotz allem, was mit Nina geschieht. In gewisser Hinsicht zerbricht sie im vierten Akt, aber sie verlässt uns mit der Aussage: Ich werde es als Künstlerin schaffen. Ich werde Erfolg haben. Ich male mir ihre Zukunft so aus, dass sie ihren Weg gehen wird – .«
Die Möwe
von Anton Tschechow
In einer Fassung des Ensembles unter Verwendung der Übersetzung von Ulrike Zemme
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere war am 7. März 2023
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