Not One of These People, Foto: © Charla Chable de la Héronnière 
Not One of These People, Foto: © Charla Chable de la Héronnière 
Not One of These People, Foto: © Charla Chable de la Héronnière 
Not One of These People, Foto: © Charla Chable de la Héronnière 
Not One of These People, Foto: © Charla Chable de la Héronnière 
Not One of These People, Foto: © Charla Chable de la Héronnière 
Not One of These People, Foto: © Charla Chable de la Héronnière 
 

FIND 2024
»Ich bin keiner von denen«
Martin Crimp und Christian Lapointe im Gespräch mit Joseph Pearson

von Joseph Pearson

12. April 2024

Schon der Titel des Stücks »Not One of These People« (»Keiner von denen«) gibt einen Hinweis darauf, wie der Theaterautor und Darsteller Martin Crimp und der künstlerische Leiter der Quebecer Theaterkompanie Carte Blanche, der Regisseur Christian Lapointe, mit Fragen nach Urheberschaft, Fiktion, Verkörperung und Verantwortung auf der Bühne umgehen.

Crimp ist schon seit geraumer Zeit eine namhafte Größe in der Londoner Theaterszene und bestens bekannt für seine Stücke »Attempts on Her Life« (»Angriffe auf Anne«) von 1997 und »The Rest Will Be Familiar to You from Cinema« (»Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino«) von 2013. Hier erleben wir ihn in einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit Lapointe, der sich nicht nur mit seiner Teilnahme am Festival in Avignon und seinen Inszenierungen symbolistischer Dramen (u.a. basierend auf Texten von Maeterlinck und Yeats) einen Namen gemacht hat, sondern auch mit Arbeiten, die an Aktionskunst grenzen (wie z.B. ein 70-Stunden-Langzeitstück über Artaud).

Wie bei vielen anderen Inszenierungen beim diesjährigen FIND an der Schaubühne ist auch hier der Einfluss der Covid-Pandemie zu spüren, sowohl in Bezug auf die Struktur des Stücks als auch auf dessen Entstehung. Schon der Umstand, dass ich Crimp in Großbritannien und Lapointe in Quebec per Zoom interviewe, erinnert mich an jene Zeit und daran, wie seltsam es war, mit Familienmitgliedern und Freund_innen mittels einer Technologie zu kommunizieren, die uns zwar miteinander verband, uns aber auch geisterhaft, beinahe computergeneriert erscheinen ließ.

Da der Zuschauerraum unter Covid-Bedingungen nicht vollständig ausgelastet werden konnte, hatte Crimp ursprünglich die Idee, sein Stück auf eine Art »pandemietauglich« zu gestalten, die es dem Publikum ermöglichte, jederzeit kommen und gehen zu können, und es so in mehreren Teilen zu erleben. »Not One of These People« war entsprechend als 5-Stunden-langes Stück konzipiert, mit 1000 verschiedenen Stimmen, teilweise inspiriert vom Langzeitstück »Speak Bitterness« (1994) der Theaterkompanie Forced Entertainment, in welchem sechs Darsteller_innen an einer langen Tafel sechs Stunden lang eine Reihe von Geständnissen vorlesen. Diese Pläne änderten sich jedoch, und Crimp erzählt mir: »Als ich bei 299 Stimmen angelangt war, habe ich mir überlegt, dort aufzuhören. Bei den ersten hundert geht es um Dinge, die ich als kulturelle Zahnschmerzen beschreiben würde, die nächsten hundert sind Geständnisse – als Hommage an Forced Entertainment – und die letzten 99 sind aus dem Zufall heraus entstanden.«

Crimp schrieb das Stück während der Ausgangssperre und erzählt mir, wie sehr es ihm Spaß machte, seine Frau und seine Tochter am Fortschritt seiner Arbeit teilhaben zu lassen (»Jungen Autor_innen sage ich immer: Wenn ihr beim Schreiben keinen Spaß habt, wird auch niemand beim Lesen Spaß haben!«). Das Ausgestalten und Weitergeben von Geschichten in einem geschlossenen Umfeld, während draußen vor der Tür eine Pandemie grassiert, hat gewisse Parallelen zu Boccaccio, und Crimp erläutert, wie er »diesen Aspekt unbewusst mit einbezogen [hat]. Ich wusste, dass ich einen sehr formgebundenen Text haben wollte, ähnlich dem Dekameron, bei dem der Ablaufplan von vornherein feststeht. Aber die letztendliche formale Struktur dessen, was wir auf der Bühne zu sehen bekommen, die von Christian mit einem kleinen Beitrag meinerseits entwickelt wurde, durchkreuzt die von mir ursprünglich gezogenen Grenzen und untergräbt sie.«

Ein Stück mit 299 verschiedenen Charakteren zu besetzen stellte eine große Herausforderung für Lapointe dar, für die er eine originelle Lösung fand, welche den Kern vieler wichtiger Fragen trifft, die sich im Theater beim Erfinden von Figuren stellen: Hunderte projizierte Personen – jede einzelne ein Deep Fake – werden mit Hilfe künstlicher Intelligenz erzeugt.

Über seinen Arbeitsprozess erzählt mir Lapointe: »Die Website »This Person Does Not Exist«, auf der Gesichter von nicht-echten Personen generiert werden, war genau der richtige Ort für uns, um unsere Besetzung zu finden. Martin hatte ja Personen erfunden, so wie er das für alle seine Stücke tut, und wie es im klassischen Drama generell üblich ist. Gleichzeitig ist es seltsam zu sehen, wie sehr wir uns der »Über-Marionette« von [Edward Gordon] Craig annähern« – der Puppe, die den Schauspieler ersetzt.

Als körperlicher Darsteller tritt nur Crimp auf der Bühne auf, wo er seine eigene Stimme jeder einzelnen dieser entkörperten Projektionen leiht. Er erzählt davon, wie es für ihn ist, im Rampenlicht zu stehen: »Es gehört zur britischen Kultur, dass die Autor_innen nie auf der Bühne zu sehen sind, nicht einmal bei der Premiere. Als ich mich also in der Rolle eines Darstellers fand, war das Erste, das ich wahrnahm, ein heftiges Körperbewusstsein, eine Trockenheit im Hals, ein Gefühl im Bauch, bevor ich die Bühne betrat. Die wichtigste Lektion, die ich auf der Bühne aus dieser Beziehung zu meinem eigenen Körper gelernt habe, war: Der Autor kann zwar körperlos sein, aber der Darsteller muss verkörpert sein.«

In diesem Fall ist der Autor allerdings nicht nur persönlich anwesend, er spricht auch die Texte der von ihm erfundenen Figuren. Crimp erklärt dieses Phänomen viel besser, als ich es könnte: »Was in diesem Stück passiert, so scheint es mir jedenfalls, ist gar nicht so weit entfernt von dem Vorgang, der in allen Stücken stattfindet: Es kommen Körper auf die Bühne, die nicht der Körper des Dramatikers sind. Ich komme hier wieder auf die Tatsache zurück, dass das genau das ist, was der Theaterautor immer macht: Es sind immer andere Menschen, die das Geschriebene verkörpern, und dieses Stück macht diesen Vorgang offensichtlich, weil Christians Konzept in dieser Inszenierung die Illusion wegnimmt. Ich könnte mir vorstellen, dass, wenn wir das Stück mit richtigen Schauspieler_innen besetzen würden, wir das selbstverständlich mit Personen tun würden, die in der Position sind, solche Dinge zu sagen. Andererseits würden wir uns dann vielleicht fragen: Muss man als Schauspieler_in die Biografie der Figur teilen?«

Tatsächlich geht es in den Rezensionen zu dem Stück großenteils um das Problem »wer schreibt was für wen«, wie es Lapointe mir gegenüber formuliert. Er erläutert das so: »Wenn man den Text des Stücks liest, kann man sich zum Teil herleiten, wer was sagen könnte. Das ist eine weibliche Figur, das eine männliche, das ist eine schwarze Frau, das ein queerer Mann, das eine Transfrau. Aber die Besetzung wirft eine Frage auf, die eine politische ist: Wer verkörpert diese Figuren?«

(Als Tipp für den Festivalbesuch würde ich vorschlagen – wenn man in einen spannenden dialektischen Diskurs treten möchte – dieses Stück parallel zu Renata Carvalhos »Manifesto Transpofágico« zu diskutieren, ein aktivistisches Plädoyer dafür, wie wichtig es ist, verkörperte Transstimmen auf die Bühne zu bringen.)

Lapointe erläutert weiter, dass es zu Beginn der Stückentwicklung am Londoner Royal Court Theatre noch »nicht klar war, ob die Gesichter jeden Abend erneut zufällig generiert werden sollten. Die Maschine hätte uns dann von der politischen Verantwortung dafür, wer diese Zeilen spricht, entbunden. Aber all diese Personen letztendlich selbst zu besetzen war zwar ein schwieriger jedoch notwendiger Teil unseres Arbeitsprozesses, denn »wer spricht« ist ja doch auch irgendwie die politische Fragestellung.«

Ich bitte Lapointe, das weiter auszuführen, und er erklärt mir: »Wir sind dieser Frage in den Kritiken zu Arbeiten von Robert Lepage begegnet. Man könnte, zum Beispiel, die Kultur der Bayern nehmen – die seit geraumer Zeit das Geld, die Öffentlichkeit und die Instrumente dafür zur Verfügung hatten, ihre eigenen Geschichten zu erzählen – und sie auf die Bühne bringen. Aber die Geschichten von indigenen Einwohnern Kanadas zu nehmen, die historisch gesehen nicht die Repräsentanz und das Geld dafür hatten, ihre eigene Geschichte auf die Bühne zu bringen, wirft wichtige Fragen zum Thema Verteilungsgerechtigkeit auf, zu dem auch »kulturelle Aneignung« als Symptom gehört. Wir haben uns sorgfältig Gedanken darüber gemacht, welches Bild mit welcher Zeile in Verbindung gebracht werden sollte, weil ich glaube, dass die Besetzung ein wichtiger Teil der Dramaturgie und des Erzählens ist.«

Crimp fügt hinzu: »Meine Aufgabe als Darsteller ist es, genau in dem Bereich zu bleiben, in dem mich Christian haben möchte. Das ist nicht die »voix blanche«, die »tonlose Stimme« des Autors. Denn, was mich betrifft, ist meine Stimme emotional immer den Figuren verbunden, die ich erfinde. Während des Schreibens habe ich bemerkt, dass ich zwar anfänglich auf die Frage »wer kann was sagen« reagiert habe, was von Kultur zu Kultur unterschiedlich ist, am Ende aber die Grenzen meiner eigenen Vorstellungskraft ausgelotet habe. Von Zeit zu Zeit kommen ziemlich reaktionäre Stimmen zum Vorschein. Eine der Figuren des Stücks sagt: »Ich schreibe genau das, was ich verdammt nochmal will.« Aber das ist natürlich nur Maulheldentum. Wir haben alle unsere Grenzen. Und für Autor_innen sind diese Grenzen die Beschränkungen der von ihnen erdachten Welt.«

Christian Lapointe führt weiter aus: »Wenn diese Figur sagt, »ich schreibe genau das, was ich verdammt nochmal will«, dann müssen wir uns natürlich darüber im Klaren sein, dass das nicht Martin Crimp ist, der das sagt. Die Spannungen zwischen den Figuren, und was sie miteinander verbindet, bestehen darin, dass sie alle von jemandem erfunden worden sind, der sie selbst nicht sind, und dass sie nicht außerhalb dieser Erfindung existieren. Ich glaube, dass diese Spannungen das Stück dramaturgisch zusammenhalten.«

Martin Crimp antwortet darauf: »Danke, dass du das so gesagt hast, Christian. Der Titel des Stücks lautet »Not One of These People« (»Keiner von denen«). Ich habe all diese Personen erfunden, was bedeutet, dass ich keiner von ihnen bin, aber gleichzeitig bin ich sie alle. Das ist das Paradoxon aller Theaterautor_innen.«

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*Das Gespräch fand zum Teil auf Französisch statt, Übersetzung ins Englische von Joseph Pearson, Übersetzung ins Deutsche von Johannes Kratzsch

 

Not One of These People

von Martin Crimp
Regie: Christian Lapointe

Premiere war am 23. April 2024

Trailer