Ödipus, aber keine Neufassung

von Joseph Pearson

30. August 2021

Das Schicksal

Viele Jahre lang hat das Athens Epidaurus Festival mit seinem Amphitheater, dem größten Theater der antiken Welt, Thomas Ostermeier dazu ermuntert, einen griechischen Klassiker zu inszenieren. »Ich habe immer abgelehnt«, berichtet der Regisseur, »weil ich nicht an das Konzept des Schicksals glaube«.

Es ist nicht verwunderlich, dass ein Mann, dessen Arbeit sich in den letzten Jahren – in Produktionen wie »Rückkehr nach Reims« und »Im Herzen der Gewalt« - der Überwindung von Grenzen wie Klasse, Geschlecht und Heteronormativität durch den Einzelnen gewidmet hat, vor der Theologie der Antike zurückschrecken könnte. Ostermeier erklärt: »Letztlich heißt es in jedem griechischen Stück, dass man keine Grenzen überschreiten soll. Ich konnte mit dieser Kosmologie nicht umgehen, aber das Festival hat mich immer wieder gebeten, ein Stück zu liefern. Also habe ich Maja Zade gefragt.«

Die Dramatikerin und langjährige Mitarbeiterin von Ostermeier sitzt neben mir in den Räumen der Schaubühne. Ihre Kammerspiele, die im häuslichen Umfeld (»abgrund«) oder am Arbeitsplatz (»status quo«) spielen, fangen die Sprache des Alltags ein, aber mit einer attischen Klarheit, die schon die Menschen der Antike zu schätzen wussten.

Zade berichtet: »Als Thomas den Klassiker vorschlug, dachte ich: Könnte das als psychologisches Kammerspiel funktionieren? Als wir Sophokles lasen, Quellen hinzunahmen und Exposés austauschten, wurde uns klar, dass wir beide sehr daran interessiert waren, wie das Leben eines Menschen von einem Moment auf den anderen völlig zusammenbricht. Wir haben auch Themen gefunden, die heute noch aktuell sind.«

Das Ergebnis ist ein neues Werk, Zades »ödipus«, in dem die Götter abwesend sind.

Doch was passiert mit der Handlungsstruktur und anderen dramatischen Elementen, wenn dieser Hauptmotor, die Konfrontation zwischen Mensch und Göttern, wegfällt? Welche Möglichkeiten ergeben sich für ein Stück, wenn es die griechische Kosmologie verlässt? Diese Fragen sind mit einer grundlegenden Aufgabe verknüpft: Was bedeutet es, Ödipus in die heutige Zeit zu übertragen? Ein Stück, das die griechische Welt eng auf die zeitgenössische überträgt, ist zwangsläufig künstlich, denn nur wenige von uns leben mit denselben Überzeugungen wie die alten Athener. Wir haben nicht dasselbe Menschenverständnis.

Das Zögern Ostermeiers, das Stück überhaupt zu inszenieren, ist also nicht nur eine Voraussetzung für seine Mitarbeit, sondern auch für die Inszenierung eines Ödipus, an den wir glauben können.

Neuschreibung

Wer bei der Premiere von Zades Stück im antiken Theater von Epidauros darauf wartet, dass die beiden Versionen einander entsprechen, wird (absichtlich) enttäuscht. Maja Zades Stück ist keine Neufassung von Sophokles.

»Ich wollte keine Überarbeitung schreiben«, erklärt Zade, »aber ich wusste, dass ich einige Elemente des Originals beibehalten würde: dass es sich an einem Tag abspielt, dass es sich auf wenige Hauptfiguren beschränkt. Ich dachte darüber nach, welche Motive und Themen interessant wären. Es wurde zwangsläufig komplizierter als meine anderen Stücke, weil die Handlung von ›ödipus‹ komplizierter ist als bei anderen Stücken. Und wir haben auch über den Titel gesprochen: ob es ›ödipus‹ heißen sollte oder nicht, aber ich dachte, es sei eine spielerische Anspielung auf den Klassiker. Ich würde nicht sagen, dass es im Dialog mit Sophokles steht. Vielmehr ist es davon inspiriert.«

Und dennoch kann das zeitgenössische Publikum mit gewissen Anlehnungen an den Klassiker rechnen. Diese Freude teilte auch das Publikum der Antike, die mit den Mythen vertraut waren und aufmerksam auf die Variationen der einzelnen Tragödiendichter achteten. Es war aufregend für sie, wenn sie etwa Varianten in Euripides' Nacherzählung der »Orestie« von Aischylos bemerkten.

Zade berichtet: »Ich persönlich würde nie auf eine so abenteuerliche Handlung kommen, vom Vatermord bis zum Inzest mit der Mutter. Wir würden denken, das sei völlig weit hergeholt und melodramatisch. Aber es hat Spaß gemacht, das Ganze auf eine psychologische Art und Weise zu gestalten, die man nicht für absurd hält. Das war eine Herausforderung und hat Spaß gemacht – es zum Funktionieren zu bringen.«

»Das Publikum wird das mögen«, mutmaße ich. »Es ist ein seltsames Vergnügen, der Vollendung einer Geschichte zuzusehen, die man bereits kennt ...«

»Ja, man erwartet, dass es eine große Offenbarung geben wird«, so Zade. »Aber wie schafft man das? Natürlich macht es Spaß, kleine Andeutungen im Text zu machen, die das Publikum versteht, die Figuren aber noch nicht.«

Ostermeier ergänzt: »Es geht nicht darum, was passiert, sondern darum, wie es passiert. Das ist das Vergnügen. Zuzusehen, wie es sich entfaltet. Mein Rat an die Zuschauer in Epidauros: Es ist gut, wenn man das Stück kennt. Dann weiß man zu schätzen, was Maja daraus gemacht hat, die Veränderungen, die Nuancen. Die Freude ist größer, wenn man den Mythos kennt.«

Macht

Trotz dieser Distanzierung vom Klassiker durch Autorin und Regisseur gibt es eine Resonanz zwischen der heutigen Zeit und dem Athen des Sophokles aus dem fünften Jahrhundert.

Die antike Kosmologie ist natürlich auch ein Motor der Spannung. Sie gibt der Handlung dieser Stücke einen Sinn. Die Grundstruktur beruht darauf, dass den einfachen Sterblichen die Allwissenheit der Götter fehlt. In ihrer Unzulänglichkeit und Hybris leiden sie unter ihrem Wissensdrang, ihrer Illusion vom freien Willen und darunter, dass sie sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden. Das Publikum erwartet die Umkehrung und den Untergang des Schicksals. Die Bestrafung durch das Schicksal ist schließlich sowohl ein Höhepunkt als auch eine theologische Lehre, auch wenn sie von den wagemutigeren antiken Dramendichtern manchmal in Frage gestellt wird.

Dieses Schema verkörpert »König Ödipus« von Sophokles, das Aristoteles als »vollkommenste Tragödie« bezeichnet. Hier wird der Held zum Detektiv und sucht nach den Gründen, warum Theben von einer schrecklichen Seuche heimgesucht wird. Ödipus kann trotz aller Beweise nicht begreifen, dass Detektiv und Täter ein und derselbe sind: »Ich ... habe meinen Vater getötet und meine Mutter schändlich geheiratet. Nun bin ich gottlos und ein Kind der Unreinheit, gezeugt aus demselben Samen, der mein elendes Ich schuf. Wenn es ein Übel gibt, das schlimmer ist als ein Übel, so ist es das Los des Ödipus« (l. 1357 ff.). Ödipus sticht sich die Augen aus, um symbolisch für diese Blindheit zu büßen.

In Zades Stück stellt sich die Machtfrage nicht zwischen Mensch und Gott. Die Konflikte, die hier die Handlung vorantreiben und Spannung erzeugen, sind für das heutige Publikum glaubwürdiger und vertrauter. Die Nachforschungen drehen sich hier um eine Umweltkatastrophe, und der Konflikt entfacht sich an den unterschiedlichen Wegen, mit dem Unfall umzugehen – unterschiedliche Formen der Herrschaft, die sich während der Ermittlungen herauskristallisieren.

Zade erklärt: »Ich denke, in dem Stück geht es um Macht und darum, wie man regiert. Wie man seine Macht ausübt und wie Männer und Frauen sie unterschiedlich nutzen. Bei Sophokles ist mir aufgefallen, dass Iokaste kaum eine Rolle spielt, außer als sie wegläuft und sich umbringt. Es war mir wichtig, dass es auch ihre Geschichte ist und dass es eine gleiche Anzahl von Männern und Frauen in der Besetzung gibt. Deshalb gibt es Theresa und deshalb mache ich eine Frau zur Chefin.«

Ostermeier ergänzt: »Vor allem in den ersten beiden Akten geht es bei Maja um einen anderen Machtkampf: Die junge, wache Generation, die von Ödipus verkörpert wird, kämpft mit dem Patriarchat, das von einem alten, familiengeführten Unternehmen und Managern repräsentiert wird, die glauben, dass das Unternehmen über allem steht. Das macht das Stück so lebendig, relevant und überraschend: Es gibt viele sich überschneidende Konzepte der Machtausübung.«

Ödipus als Vertreter einer kritischen, jüngeren Generation ist an der Wahrheit interessiert und daran, das Richtige zu tun – im Sinne der antiken Tragödie sein »Makel«. Er gerät in Konflikt mit der alten Garde, was in der antiken Tragödie in der Auseinandersetzung mit Kreon zum Ausdruck kommt. In Zades Version will er die Ursache des Unfalls mit Pestiziden unbedingt aufklären. Doch die ältere Generation sucht nach Möglichkeiten, die Katastrophe zu vertuschen.

Eine interessante Parallele zum antiken Stoff besteht darin, dass diejenigen, die nach der Wahrheit suchen, immer noch besiegt werden. Aber nicht mehr von den Göttern, sondern von einem System der Unternehmensführung, das außerhalb der göttlichen Moral steht. In diesem Sinne ähnelt die alte Garde der Geschäftsleute wohl den Göttern, die selbst außerhalb der Moral stehen und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, tun, was sie wollen. In diesem Sinne steht die moralische Haltung der Unternehmer für unseren heutigen Umgang mit den globalen Krisen.

Dazu sagt Zade: »Ohne es zu offensichtlich zu machen, ist die Art und Weise, wie diese Figuren über die Führung des Unternehmens diskutieren, auch die Art und Weise, wie politische Diskussionen ablaufen. Wie ehrlich ist man? Wie kann man Dinge drehen? Wie regiert man ein Land?۫«

Umweltverschmutzung

Das Stück dreht sich um einen ökologischen Zwischenfall und auch darum, wie wir mit unserem Planeten umgehen. Welche langfristigen Lösungen haben wir im Falle einer Verseuchung? Diese Formulierung, »das Land verseuchen«, ist genau die Sprache des Sophokles, wenn er eine Seuche beschreibt, die Theben heimsucht. Am Ende ist Ödipus der Verursacher – und so sollten auch wir unsere Rolle bei der täglichen, unbedachten, schrittweisen Zerstörung unserer Umwelt hinterfragen.

Dieses Stück hat etwas viel Traurigeres und Deterministischeres als das antike Original, denn die Verseuchung ist ein Fleck auf dem Land, der sich nicht so leicht entfernen lässt. Er ist fast unauslöschlich. In der antiken Welt gab es die Hoffnung, dass die Götter die Torheiten der Menschen korrigieren oder rückgängig machen. Die Nemesis kann bestrafen, aber auch retten. In unserer Welt existiert keine höhere Macht, die uns hilft.

Zade erläutert: »Wir haben darüber nachgedacht, was für ökologische Katastrophen auf diejenigen zukommen könnten, die ein großes, erfolgreiches Unternehmen leiten.«

Ostermeier: »Wichtig war, dass es eine Verbindung zwischen Ödipus' Handeln und der ökologischen Katastrophe geben musste. Das hat unsere Möglichkeiten eingeschränkt. Wir dachten an eine nukleare Katastrophe. Wir zogen auch eine Pandemie in Betracht, konnten uns aber nur schwer vorstellen, wie Ödipus dafür verantwortlich sein könnte. Ich bin froh, dass wir diesen Weg nicht eingeschlagen haben. Wir brauchten eine eher metaphorische Lösung, kein Theaterstück, das anderthalb Jahre nach Covid-19 spielt. Das wäre zu banal gewesen.«

Ich möchte wissen: »Hat die Corona-Pandemie das Stück trotzdem beeinflusst?"

Ostermeier: »Nicht nur anderthalb Jahre Corona, sondern alles, was mit der globalen Krise zusammenhängt: die Hitze an der Westküste, die 45 Grad in Vancouver, die Brände in Griechenland. Nicht nur die Überschwemmungen, die wir in Deutschland erlebt haben, sondern auch die in Bangladesch und China. Das sind alles vom Menschen verursachte globale Katastrophen.«

»Auch Covid-19 wurde von uns selbst verursacht«, werfe ich ein.

»Ja«, sagt Ostermeier, »und das hängt mit meinem Verständnis des ›ödipus‹-Stücks zusammen. Ich möchte Ihnen eine Anekdote erzählen. Als am 13. November 2015 die Terroranschläge im Pariser Bataclan-Theater verübt wurden, sollten wir am nächsten Tag in Paris die Inszenierung ›Ödipus der Tyrann‹ von Regisseur Romeo Castellucci aufführen. Viele in unserer Truppe weigerten sich, dorthin zu fahren, aus Angst. Andere hielten es für eine wichtige Möglichkeit, sich mit den Parisern zu solidarisieren. Der Intendant des Théâtre de la Ville, wo wir auftraten, trat sogar vor das Publikum, um die Werte der Aufklärung zu verteidigen: Wir müssen auftreten, auch wenn wir in Gefahr sind, auch wenn es Terrorismus gibt.

Als ich diese Inszenierung sah, habe ich das Stück ›Ödipus‹ verstanden. Es geht um ein Problem, das eine Gesellschaft in Gefahr bringt. Man untersucht die Ursache des Problems und findet heraus, dass man es selbst ist. So lese ich auch die Terroranschläge. Alle Pariser Terroristen sind in Paris aufgewachsen. Sie sind Teil unserer Gesellschaft. Nicht irgendwelche Extremisten aus Afghanistan. Es sind Menschen, die aus unserer Gesellschaft ausgestoßen wurden. Im Mittelpunkt des Stücks stehen solche Probleme, unsere Spaltung in Arm und Reich, Migranten und Dazugehörige, die Umweltkatastrophen, die wir verursachen. Wenn wir also eine globale Pandemie erleben, was ist dann die richtige Geschichte, um sie auf die Bühne zu bringen? Es ist nicht Albert Camus' ›Die Pest‹. Es ist ›Ödipus‹. Es ist ein Stück darüber, wo wir im Moment stehen, denn wir sind das Problem.«

Und so kehren wir zum Anfangsthema der Diskussion zurück - dass nicht die Götter schuld sind.

ödipus

von Maja Zade
Regie: Thomas Ostermeier
Uraufführung

Premiere war am 19. September 2021

Trailer