FIND 2024
»Leute, die man nicht kennt, über die man aber mehr wissen möchte…«
Ein Interview mit dem Regisseur Marco Martins
von Joseph Pearson
16. April 2024
Es gibt eine Schreibübung, die darin besteht, dass man sich in einen Bus oder eine U-Bahn setzt und sich die Geschichten der fremden Menschen vorstellt, die einen umgeben. Ist diese Person verliebt? Welchen Beruf übt jene Person aus? Ist sie unterbezahlt? Wenn man keine Gelegenheit hat, diese Person näher kennenzulernen – und in Abwesenheit schriftlicher Belege, eindeutiger optischer Anhaltspunkte oder belauschter Telefonate – denkt man sich notwendigerweise etwas aus.
Fremde Menschen, die aus dem täglichen Leben gegriffen sind, werden auf der Bühne der Schaubühne beim Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) 2024 ihre Geschichten erzählen. Es sind sieben Pflege- und Reinigungskräfte aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien, die im Stück »Pêndulo« von Marco Martins und dem Arena Ensemble zwischen den Vororten von Lissabon und dem Stadtzentrum pendeln. Ich unterhalte mich mit dem Regisseur über Immigration, gefährdete Bevölkerungsgruppen und wie man anderer Leute Erlebnisse im Theater darstellen kann.
Joseph Pearson: In jedem Titel steckt eine Menge. Eurer lautet »Pêndulo«, zu Deutsch »Pendel«. Dabei denke ich an eine gewichtskraftgetriebene Bewegung. In welche Richtung bewegt sich dieses Pendel, und worin besteht das Gewicht?
Marco Martins: Auf der Bühne haben wir eine Schiebetür, welche die Arbeitswelt von der privaten Welt trennt – einen Supermarkt von einem Zuhause, zum Beispiel. Aber es gibt auch eine Bewegung, zwischen den Vororten Lissabons und dem Stadtzentrum, zwischen dem Arbeitsplatz und dem Zuhause. Und schließlich gibt es den größeren Rahmen, eine Bewegung zwischen dem Auswanderungsland und Europa, von den Kolonisierten zu den Kolonisator_innen – von Afrika oder Brasilien nach Portugal. Die Beschaffenheit und die Masse dieser Pendelbewegung hält die Gesellschaft in gewisser Weise am Laufen. Wenn sich das ändert, ändert sich wiederum auch unser Leben.
JP: Du richtest deinen Blick auf Immigrantinnen, die in unsicheren Arbeitsverhältnissen als Reinigungs- und Pflegekräfte arbeiten. Wie hat sich die Covid-Pandemie auf diese Menschen ausgewirkt?
MM: Die Pandemie hat ihre Rolle in unserer Gesellschaft und die Labilität ihrer Arbeitsverhältnisse verdeutlicht. Der Ausnahmezustand hat den Unterschied zwischen Privilegierten und Nichtprivilegierten deutlich hervorgehoben. Zu jener Zeit habe ich in England an einem Filmprojekt über portugiesische Gastarbeiter_innen in Fleischfabriken im Norden des Landes gearbeitet, die Schafe und Truthähne schlachteten. Durch die Pandemie fanden sich diese Migrant_innen in einer schrecklichen Lage wieder. Wir mussten die Dreharbeiten für ein halbes Jahr unterbrechen und ich musste nach Portugal zurückzukehren. Dort fiel mir auf, dass zu einer gewissen Zeit die einzigen Personen, die öffentliche Verkehrsmittel benutzten, also die einzigen, die weiterhin zur Arbeit pendelten, Reinigungs- und Pflegekräfte waren. An dieser Beobachtung hat mich besonders ergriffen, wie sehr unsere Gesellschaft auf diese Menschen angewiesen ist.
JP: Warum hast du dich entschlossen, dich auf Frauen zu konzentrieren?
MM: Ich hatte eigentlich gar nicht vor, ausschließlich mit Frauen zu arbeiten. Ursprünglich gab es auch einen Mann in der Inszenierung. Aber gesamtgesellschaftlich gesehen – überall auf der Welt – werden diese Arbeiten meist von Frauen ausgeübt. Immigrant_innen mit Berufserfahrung als Pflegepersonal, die an jener Pendelbewegung von ihrem Zuhause – wo sie sich um ihre eigenen Kinder kümmern – hin zu einem Arbeitsplatz beteiligt sind, an dem sie sich um die Kinder anderer Menschen kümmern, sind größtenteils Frauen.
JP: Wenn wir uns die Herkunftsländer dieser Immigrantinnen ansehen, dann reden wir über die ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika (wie z.B. Angola, Mozambique, São Tomé und Príncipe), und Südamerika (Brasilien). Sind diese Menschen einem vergleichbaren Druck und einer ähnlichen Stereotypisierung ausgesetzt?
MM: Ja, es gibt eine große Bandbreite an Sichtweisen auf die verschiedenen Migrant_innengruppen. Aber es macht auch einen Unterschied, wann sie nach Portugal kamen. Im Mittelpunkt des Stücks stehen zwei ältere Frauen, um die 70 Jahre alt, aus São Tomé und Príncipe und aus Angola. Ihre Biografien sind mit einer langen Sklaverei-Geschichte verbunden. Sie erzählen von Großeltern, die im Alter von 14 Jahren für einen sehr geringen oder gar keinen Lohn auf Kaffeeplantagen arbeiteten. Sie gingen nicht zur Schule. Vor allem die älteren unter ihnen haben enorm viel Gewalt und Unsicherheit durchlebt, angefangen mit dem Problem damit, in Portugal Arbeitsrechte zu bekommen. Ich wollte die Stereotype, welche dieser Art von Arbeiter_innen zugeschrieben werden, zurechtrücken und auch ihre Unterschiede aufzeigen. Es gibt eine junge Generation von Pflegekräften und Migrant_innen, die aus Brasilien kommen und ein besseres Bildungsniveau besitzen. Viele kamen wegen eines Universitätsstudiums hierher und machen diese Arbeit, um sich ein wenig Geld dazuzuverdienen. Das ist eine grundsätzlich andere Situation als die vorheriger Generationen, welche hauptsächlich aus afrikanischen Einwander_innen bestehen, die mit ihren Familien in den 70er und 80er Jahren hierher kamen. Heutzutage immigrieren viele der jungen Frauen komplett allein, und das kann sehr hart und vereinsamend sein.
JP: Wie funktioniert es, dass Frauen, die in solchen Berufen arbeiten, an einer Theaterinszenierung teilnehmen? Verlieren sie dadurch nicht ihre Anstellungen?
MM: Viele von ihnen haben keine festen Arbeitsverhältnisse, sie geben ihre Tätigkeiten auf und fangen später wieder damit an. Ein paar bekommen von ihrer Arbeit aus die Erlaubnis, an dem Stück teilzunehmen – wir sprechen mit der Arbeitgebern. Andere waren schon im Ruhestand, als wir sie kennengelernt haben. Aber besonders für viele Pflegekräfte ist es oft unmöglich. Selbstverständlich bekommen sie vom ersten bis zum letzten Tag ihrer Beteiligung den gleichen Lohn wie alle anderen Darsteller_innen. Wenn man aber dann nach der Premiere und der ersten Runde von Aufführungen mit dem Stück lange auf Tournee geht, wird die Sache komplizierter – es ist eine Herausforderung, dieses Stück über einen längeren Zeitraum im Repertoire zu haben, und manchmal gibt es eine reduzierte Besetzung. Und, das ist auch sehr spannend, wenn sie nach längerer Pause zum Stück zurückkehren, haben sich ihre Lebensumstände manchmal geändert und wir versuchen das ins Stück miteinzubauen um es zu aktualisieren. Eine der Arbeiterinnen hat zum Beispiel als Reinigungskraft in einem Gefängnis in Brasilien gearbeitet. Weil sie mit dem Stück ein wenig Geld verdient hat, konnte sie ein Sicherheitstraining absolvieren und arbeitet jetzt als Bodyguard. Das ist jetzt auch im Stück drin.
JP: Ich möchte dich auch zu den derzeitigen politischen Debatten in Portugal befragen, nachdem die extreme Rechte bei den Wahlen im März kräftig zugelegt hat...
MM: Die Rolle von Immigrant_innen in der Gesellschaft hat sich zu einem zentralen Aspekt entwickelt. Die extreme Rechte behauptet, dass sie uns unser Geld wegnehmen, unsere Arbeitsplätze, auch wenn es niemanden anderes gibt, der/die diese Arbeit macht und die jungen Leute das Land verlassen – wir Portugies_innen sind ein Volk von Migrant_innen und sind zeitlebens nach Frankreich oder in die USA ausgewandert. In meiner Arbeit geht es mir darum, Räume und Mittel zur Repräsentation von Stimmen zur Verfügung zu stellen, die wir nicht oft auf der Bühne zu hören oder sehen bekommen. Aber ich muss dazusagen, dass das nicht unbedingt politisch motiviert ist, sondern aus meinem echten Interesse für diejenigen herrührt, die ich nicht kenne und über die ich mehr erfahren möchte – Menschen, die mich im täglichen Leben umgeben und zu denen ich ansonsten keinerlei Beziehung hätte. Das Theater ist ein Ort, an dem man Menschen zusammenbringen kann, und manchmal trägt es zu einer umfassenderen Debatte über die Probleme bei, denn in den Medien wird es generell immer seltener, dass man die Stimmen dieser Menschen zu hören bekommt. Wir hören dort Politiker_innen und Journalist_innnen über Immigrant_innen sprechen, aber keine Immigrant_innen über sich selbst.
JP: Erzähl mir, wie du die Frauen kennengelernt und in deiner Inszenierung mit ihnen gearbeitet hast.
MM: Das war ein Prozess: Zusammen mit einem langjährigen Kollegen habe ich begonnen, viele Frauen, die zur Arbeit pendeln, zu interviewen, ungefähr einhundert von ihnen. Sie bilden aber nicht eine einzelne Gemeinschaft, und aus ihren persönlichen Geschichten ergab sich, dass sie trotz der vorhandenen Gemeinsamkeiten auch sehr unterschiedlich sind. Da habe ich aber nicht nur angefangen, die Besetzung auszuwählen, sondern auch die zentralen Themen. Die Lebensläufe dieser Frauen sind immer mein Ausgangspunkt, und darauf baue ich eine Fiktion auf.
JP: Würdest du das als Auto- oder Doku-Fiktion bezeichnen?
MM: Nicht direkt. Hier wird eine fiktionale Welt wird so konstruiert, dass sie das Leben dieser Frauen umschließt – in diesem Fall ein Supermarkt – und als Rahmen funktioniert, in welchem die Fragen, die ich untersuchen will, problematisiert werden können. Auf diese Weise kann ich vollständig autobiografisches Material verwenden, wie z.B. ihre Erlebnisse bei Bewerbungsgesprächen oder Telefonate, die sie führen. Wenn ich einen Text einbringe, den die entsprechende Interpretin gut nachempfinden kann – der ein Abbild ihres Lebens darstellt, auch wenn er nicht auf ihren eigenen Erfahrungen basiert – dann können wir ihn mitaufnehmen. Dennoch spielen sie nie Figuren, die stark von ihrer eigenen Person abweichen, auch wenn die Situationen konstruiert sind.
JP: Was ist deine Herangehensweise an das Arbeiten mit nichtprofessionellen Darsteller_innen – oder sollten wir sie vielleicht besser »Expert_innen des Alltags« nennen?
MM: Mit dem Begriff »nichtprofessionelle Darsteller_innen« fühle ich mich sehr unwohl. Vor ein paar Tagen habe ich eine Text gelesen, in dem die Formulierung »professionelle Amateur_innen« verwendet wurde. Das gefällt mir sehr gut. Aber ich nenne sie »Interpret_innen«. Mit ihnen zu arbeiten unterscheidet sich sehr von der Arbeit mit Berufsschauspieler_innen. Am Ausgangspunkt steht ein Text, den man mit ihnen diskutiert, und daraus entwickelt sich dann die Dramaturgie. Das ist ein längerer Prozess: Ich brauche dafür fünf bis sechs Monate. In den ersten Monaten arbeiten wir nicht jeden Tag zusammen, aber die letzten drei Monate verbringen wir täglich zusammen im Probenraum, erzählen uns gegenseitig unsere Geschichten, improvisieren und entwerfen Fiktionen, die ihre Lebensgeschichten theatralisch wiedergeben können. Es gibt auch eine körperbetonte Komponente und ich arbeite immer auch mit jemandem, der/die eine Verbindung zum Tanz hat, sowie mit einer Komponistin bzw. einem Komponisten. Der Probenraum ist unser Entwicklungslabor. Das »endgültige« Stück entsteht in diesem Prozess erst ziemlich spät. Ich würde gern hinzufügen, dass viele dieser Frauen – generell die meisten von uns – nie zuvor die Gelegenheit hatten, irgendjemandem ihre Geschichte zu erzählen, außer vielleicht ihren Ehemännern oder Söhnen. Im Theater gestalten und entdecken sie eine Art Identität. Das ist ein Prozess und ich versuche, jedes mir zur Verfügung stehende Mittel zu nutzen, um ihre Geschichte zu erzählen.
JP: Zum Beispiel?
MM: Nehmen wir zum Beispiel das Handy. Wir haben diese zwei Orte: den Supermarkt und das eigene Zuhause. Es gibt aber auch noch einen dritten Ort, einen rituellen Ort, den des Mobiltelefons. An diesem fühle sie sich zuhause, so kommunizieren sie mit ihren Kindern in Afrika oder Brasilien oder mit anderen Familien. Mir ist aufgefallen, dass diese Frauen immer ihr Handy dabeihaben. Wenn sie putzen, reden sie ständig, das Telefon während der Arbeit unters Ohr geklemmt. Zum ersten Mal überhaupt habe ich gesagt: Bitte benutzt eure Handys während der Proben! Technisch war das ein wenig kompliziert, aber wir haben sogar einen Weg gefunden, ihre Gespräche per Lautsprecher zu verstärken. Wenn es etwas Persönliches war, haben sie natürlich nachgefragt: Hör mal, ich bin hier auf einer Theaterprobe, hast du etwas dagegen, wenn die anderen unser Gespräch mithören? Ich habe einige der Familien eingeladen, mittels dieser telefonischen Interaktionen ein Teil des Stücks zu werden; wir haben ihnen Fragen gestellt und sie aus ihrem Leben erzählen lassen. Wenn die Interpretinnen einen Anruf annahmen, wurden die eigentlichen Probleme schnell sichtbar: Es ging um einen Sohn, der von jemand anderem betreut wurde, um Unterlagen, welche nicht angekommen waren, darum, wie Geld versendet wird – Handys im Probenraum zuzulassen machte die ganze Sache noch viel anschaulicher.
JP: Ich kann es kaum erwarten, das Stück und euch in Berlin zu sehen!
MM: Ich auch!
Ein abschließender Gedanke für alle, die diese Reihe von Essays zum FIND 2024 bis hierhin gelesen haben: Einer der spannendsten Aspekte des Festivals ist, wie es ein Bild des Theaters der Welt skizziert. Ich sage bewusst »skizziert« und nicht »zeichnet«, weil die Rückschlüsse notwendigerweise skizzenhaft bleiben – in meinem Fall die kurzen, auf einer kleinen Auswahl basierenden Betrachtungen eines einzelnen Beobachters. Aber nachdem ich nun ein halbes Dutzend Regisseur_innen interviewt habe, die bald nach Berlin kommen werden, finde ich es beträchtlich, wie groß der Einfluss ist, den die Covid-Pandemie auf kreatives Arbeiten hatte. Es gibt Stücke, die pandemiekonform für ein Abstandsregeln einhaltendes Publikum entwickelt wurden (»Not One of These People« war ursprünglich als 5-Stunden-langes Stück konzipiert, das von einer wechselnden kleinen Anzahl von Zuschauer_innen gesehen werden konnte). Für andere Arbeiten wiederum lieferte der Pandemie den thematischen Inhalt: wie ein staatliches Eingreifen in die Wirtschaft auf andere Art funktionieren könnte (»Il Capitale«) oder wie akut wichtig es ist, die Geschichten der älteren oder verwundbaren Mitglieder unserer Gemeinschaften zu erzählen (»The Confessions« und »Pêndulo«). Als Artist in Focus sagte mir Alexander Zeldin im Interview, dass wir »von Memoiren dominiert« werden. Ich glaube, dass die Pandemie die »Ära des Dokumentarischen« zementiert hat, aber viele Regisseur_innen hatten auch schon vorher »genug von der Fantasiewelt«. Die Tragödien der vergangenen Jahre, gepaart mit dem Vormarsch der von den sozialen Medien beförderten selbstdarstellerischen Selbstgestaltung, bringen die Dramen des Alltags deutlich genug ans Licht. Es ist aber auch eine Gelegenheit, so wie in Marco Martins’ Arbeit, jenen ein Gesicht und eine Menschlichkeit zu geben, die, wie er es beschreibt, ihn im täglichen Leben umgeben und zu denen er »ansonsten keinerlei Beziehung hätte«.
Ich freue mich darauf, euch beim Festival zu sehen.
Pêndulo
von Marco Martins und Arena Ensemble
Regie: Marco Martins
Premiere war am 20. April 2024
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