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In ein besseres Licht
Die Entkolonialisierung des öffentlichen Raums in Berlin
Ein Gespräch mit Cédric Djedje und Noémi Michel
In ein besseres Licht
Die Entkolonialisierung des öffentlichen Raums in Berlin
Ein Gespräch mit Cédric Djedje und Noémi Michel
von Joseph Pearson
24. April 2023
Als der Darsteller und Regisseur Cédric Djedje im Juli 2018 mit einem sechsmonatigem Künstlerstipendium aus Genf nach Berlin kam, fand er sich im Afrikanischen Viertel im Bezirk Wedding wieder. Aber anders als zu erwarten hatte der Stadtteil nicht viel gemeinsam mit seinen Namensvettern »die ich aus Paris oder Brüssel kannte, mit einer großen afrikanischen Bevölkerung«.
Stattdessen wohnte er nun in einem Viertel, in dem die Straßennamen an die Tragödie des deutschen Kolonialismus in Afrika erinnerten. Nachtigalplatz, benannt nach Gustav Nachtigal, der Togo und Kamerun unterwarf; Petersallee, benannt nach Carl Peters, die »blutige Hand« von Deutsch-Ostafrika und ein von Hitler gefeierter Sozialdarwinist; Lüderitzstraße, benannt nach Adolf Lüderitz, der afrikanische Oberhäupter mit betrügerischen Verträgen um ihr Land brachte.
Als Afro-Europäer ivorischer Abstammung nahm sich Djedje »die Zeit, sich Gedanken über andere Hinterlassenschaften des Kolonialismus in seiner Nachbarschaft zu machen: nicht nur Straßennamen, auch andere Überbleibsel traten bei Rundgängen durch das Viertel deutlich zum Vorschein«. Aus seinen Recherchen entstand das Theaterstück »Vielleicht«, das endlich beim FIND 2023 an der Schaubühne seine Berlin-Premiere feiern wird – in der Stadt, um die es darin geht. Seine Dramaturgin Noémi Michel, Oberassistentin für politische Theorie an der Universität Genf und ehemals auch Gastdozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin, gesellt sich zu unserer Unterhaltung hinzu.
Michel erklärt: »Meine wissenschaftliche Forschung konzentrierte sich darauf, wie sich Aktivist_innen im öffentlichen Raum in Frankreich und der Schweiz mobilisierten, aber als ich 2015 zum Thema Antirassismus in Berlin arbeitete, und mich später wieder in Berlin mit Cédric zu Beginn seines Gastaufenthalts traf, ergab sich ein anderes zu betrachtendes Bild. Mit Hilfe eines Fragebogens gingen wir auf die Bewohner des Viertels und Berliner Aktivist_innen zu, insbesondere auf jene, die sich bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und bei Berlin Postkolonial engagieren, um deren vielschichtige und wiederholte Forderungen nach Antirassismus und Entkolonialisierung in der deutschen Hauptstadt zu verstehen.«
Djedje fügt hinzu: »Durch Noémi gelang es mir, meine hiesigen Kontakte auszuweiten. Das hat eine Weile gedauert, aber glücklicherweise hatte ich sechs Monate Zeit. Ich besuchte Veranstaltungen, redete mit Leuten, schrieb E-Mails, ging wieder auf Veranstaltungen und fing an, die Problematik aus einer lokalen Perspektive zu verstehen. Später, während der Ausarbeitung des Theaterstücks, brauchten wir noch einmal mehr Zeit um die passende Form dafür zu finden: Wie verwandelt man diese Menge Material in einen Theaterabend? Wie sollten wir die ganzen historischen Details mit unserer Recherche und den individuellen Geschichten verknüpfen? Warum war ich in Berlin? Den richtigen Blickwinkel zu finden war die große Herausforderung.«
Er erzählt weiter: »Aber wir fanden einen Weg, denn es gab ein performatives Element, das wir zusammen mit unserer großartigen Bühnenbildnerin entwickelten. Wir waren in der Lage, die Form neu auszurichten, indem wir sie sowohl als ein Ritual als auch als eine Untersuchung verstanden haben. Das hat es uns ermöglicht, eine Hommage an die Aktivist_innen zu schaffen: ein Stück, dass dem Kampf verschiedener Generationen afrikanischer und afrikanisch-stämmiger Menschen gegen koloniale Strukturen gerecht wird und es dem Publikum erlaubt, meine sechsmonatige Recherche im Afrikanischen Viertel nachzuvollziehen.«
Eine Reihe von Interviews mit Aktivist_innen und mit Menschen, die etwas enger mit Cédrics persönlichem Leben verbunden sind, wie seine Eltern als afrikanische Migrant_innen in Frankreich, wurde zum Grundgerüst für die Inszenierung. Wiederkehrende Themen mussten, wie Michel es ausdrückt, aus der Menge an Material »herausgeformt« werden. Langsam entwickelte das Team die einzelnen Themen immer weiter, um eine übergreifende Struktur zu finden, und »zusammen konnten wir dann damit anfangen, eine Geschichte über deutschen aber auch europäischen Entkolonialisierungs-Aktivismus auszuarbeiten, welche die Strategien und Diskurse antikolonialer Figuren der Vergangenheit mit denen in Einklang bringt, die den Kampf heute austragen.«
Ich stelle die Frage, welchen Einfluss das Thema auf die Ausgestaltung der Inszenierung hatte, und Cédric erläutert, wie selbst Elemente wie die Lichtgestaltung sich an Fragen des Antirassismus orientiert: »Es ist überaus wichtig darüber nachzudenken, was Licht im Theater mit der Haut macht. Traditionellerweise war die Beleuchtung in Europa auf weiße Haut ausgerichtet, aber wir ziehen in Betracht, was es bedeutet Techniken zu verwenden, die auch andere Hauttöne gut aussehen lassen...«
Noémi fügt hinzu: »Da schwingt auch die Frage der Pluralität mit. Was wir mit der Inszenierung von »Vielleicht« vorhaben ist eine Untersuchung der Verstrickungen: von Raum, Zeit und geschichtlichen Ereignissen. Wir zeigen, dass wir als Afrikaner_innen und Afroeuropäer_innen eine Diaspora darstellen und gemeinsame Erfahrungen und Beziehungen teilen.«
Als ich danach frage, ob man auch Unterschiede feststellen kann, führt Noémi weiter aus: »Afrikanische und afrikanisch-stämmige Aktivist_innen müssen mit den unterschiedlichsten Formen kolonialer Leugnungen und Amnesie in Frankreich, der Schweiz und Deutschland umgehen. In Deutschland ist es zum Beispiel schwierig, auf die koloniale Vergangenheit aufmerksam zu machen, weil man sich hier auf den Zweiten Weltkrieg konzentriert. In Frankreich legt die Vorstellung einer »rassenlosen« Republik die Grenzen der Auseinandersetzung mit Fragen des Rassismus fest. In der Schweiz ist es das Verständnis des eigenen Exzeptionalismus, »l’exception suisse«, das den Gedanken einer kolonialen Unschuld nahelegt. In jedem dieser Zusammenhänge existiert eine Abschirmung gegen die Verbindung mit einer nationalen Sklaverei- und Kolonialgeschichte. Außerdem wirft das Ganze natürlich auch die Frage auf, welche neuen Namen denn stattdessen ausgesucht werden sollten...«
Das Thema der Umbenennung von Straßen und der Entkolonialisierung des öffentlichen Raums in Berlin hat für intensive Auseinandersetzungen gesorgt, insbesondere im letzten Jahrzehnt. Zweihundert Anwohner_innen und Gewerbetreibende haben gegen die Umbenennungen im Afrikanischen Viertel geklagt. Dennoch wurde im Dezember 2022 schließlich der Nachtigalplatz zum Manga-Bell-Platz und die Lüderitzstraße zur Cornelius-Fredericks-Straße (beide benannt nach afrikanischen Anführern im Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft im heutigen Kamerun bzw. Namibia). Inzwischen erstreckt sich die Diskussion über die Grenzen des Weddings hinaus: die Umbenennung der Mohrenstraße in Mitte stellt ein weiteres Highlight in dieser kontroversen Debatte dar.
Ich frage: »Seit Beginn der Arbeiten an eurem Stück sind im Wedding inzwischen zwei Straßen umbenannt worden. Wie hat das die Inszenierung beeinflusst?«
»Im März hatten wie Aufführungen in Lausanne, aber das war unproblematisch, denn dort ist man weit weg von den politischen Debatten Berlins. Das wird natürlich ganz anders aussehen, wenn wir zum FIND kommen. Wir betrachten das Stück aber auch als ein zeitgenössisches Archiv der Debatten bis hin zum Jahr 2022«, erklärt mir Djedje.
Michel führt fort: »Die Dramaturgie des Stücks baut auf der Spannung auf, die aus dem Warten auf den Tag entsteht, an dem sich die Dinge ändern, diesem Wunschtraum der Aktivist_innen. Wir haben das Theater als Raum für die Fantasie der Entkolonialisierung benutzt. Jetzt fangen wir damit an, uns vom peut-être (vielleicht) zum être (sein) zu bewegen. Das Stück ist eine Hommage an die Stimmen, die das durch ihren Kampf ermöglicht haben...«
Cédric erzählt mir: »Die Umbenennungen ermöglichen ganz klar neue Perspektiven. Aber was für eine Zukunft ermöglichen sie? Wir können nicht behaupten, dass mit der Umbenennung einer Straße das Problem beseitigt wäre. Es ist nicht nur so, dass diese Diskussion auch in anderen Städte geführt werden müsste, in anderen Teile von Berlin müsste das auch passieren. Deshalb bauen wir in jede Vorstellung ein Gespräch mit einem/einer lokalen Künstler_in ein, in dem wir uns über die Auswirkungen unterhalten – darüber, was alles noch nicht erreicht wurde.«
Das Gespräch fand auf Französisch statt, ins Englische übersetzt von Joseph Pearson.
Vielleicht
(Genf)
von Noémi Michel, Ludovic Chazaud und Cédric Djedje
Regie: Absent.e pour le moment
Studio
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