Ein funkelnder Abgrund
von Joseph Pearson
28. März 2019
Die Bühne glänzt.
»In ›abgrund‹ geht es um die Oberfläche«, sagt Thomas Ostermeier über Maja Zades Stück. »Es geht um Helligkeit, blendenden Glanz, das Glitzern auf der Oberfläche.«
Eine Kücheninsel aus Edelstahl ist das einzige Möbelstück im Zentrum der dunklen Bühne. Eine minimalistische Lampe hängt über dem Tisch, Weingläser und Küchenutensilien reflektieren das Licht. Dahinter kündigt ein nüchterner Schriftzug die Szenen an, die vielen kleinen Konflikte, die in der teuren Designerküche ausgehandelt werden.
Ich habe noch nie eine so spärlich möblierte Ostermeier-Produktion gesehen; dennoch gibt es auf Nina Wetzels Bühne genug Dinge, die uns diese Welt vertraut erscheinen lassen: Eine Wohnung in Berlin, im Jahr 2019. Ein minimalistischer Hintergrund für Ostermeiers »Kammerspiel«.
Während einer Probenpause betrete ich die Bühne. Ich rieche an einer der Weinflaschen. Ist das echter Chardonnay oder Wasser? Der Rotwein sieht authentisch aus – aber er riecht nach schwarzer Johannisbeere. Halb aufgegessene Schälchen mit Schokoladenpudding stehen auf der Edelstahlplatte, daneben eine Wasserkaraffe mit bunten Edelsteinen.
»Das Wasser schmeckt besser mit den Kristallen drin«, behauptet Schauspieler Laurenz Laufenberg.
»Vielleicht fügen sie dem Wasser Mineralstoffe hinzu …«, schlage ich vor, da ich nicht an eine spirituelle Erklärung glaube.
»Ach Quatsch, du spinnst wohl!«, erwidert Alina Stiegler.
»Das Essen ist echt.«, fährt Laurenz fort. »Es gibt Salat und Lammkoteletts. Und der Pudding schmeckt fantastisch, nur zu viel davon macht müde …«
»Esst ihr das wirklich alles während des Stücks?«, frage ich ihn.
»Na klar!«
»Aber manche Schauspieler spielen nicht gerne mit vollem Magen.«
»Aber so steht es im Stück!«, sagt Laurenz und ich erwidere, dass er heute sehr nach »Method Acting« klingt.
Ich kehre zu meinem Sitz zurück und auf der Bühne läuft die Szene weiter. Ich fühle mich seltsam, denn jetzt kommt es mir plötzlich so vor, als wäre auch mein Gespräch mit Laurenz eben auf der Bühne ein theatraler Akt gewesen. Die Schauspieler_innen führen lockere Gespräche im umgangssprachlichen Ton: Moritz Gottwald und Christoph Gawenda diskutieren die Qualität von Tchibo-Produkten, Jenny König wirft ein, dass man dort immer mal schöne Kleinigkeiten findet. Die Repliken überlappen und überschneiden sich. Die Schauspieler_innen sprechen in derselben Lautstärke, wie kurz zuvor Laurenz und ich. Sie tragen Mikrofone, so dass sie auf der Bühne in normaler Lautstärke sprechen können.
Natürlich weiß ich, dass sich die Gespräche auf der Bühne von meiner Unterhaltung während der Pause unterscheiden. Würde die Realität exakt reproduziert, fänden wir das unglaubwürdig. Die Gabe eines Kammerspiels ist es, eine Fiktion zu erschaffen, die wir für glaubwürdig halten.
Ich frage Ostermeier, wie er diesen Effekt erzielt.
»Viel davon ist eine Frage des Rhythmus’. In den letzten Wochen habe ich mit den Schauspieler_innen Übungen gemacht, bei denen es darum geht, zu beobachten, wie Sprache im echten Leben rhythmisch strukturiert ist. Meistens ist der Sprechrhythmus schneller und hat mehr Höhen und Tiefen. Die Lautstärke verändert sich mehr, es ist musikalischer als 90% der Sprache auf der Bühne. Ich versuche, die Wahrnehmung der Schauspieler_innen für diese Unterschiede zu schärfen. Aber ich musste gar nicht viel tun: Seit Probenbeginn sind alle geradezu besessen und hören bei privaten Abendesseneinladungen ganz anders hin als vorher.«
»Und es hilft wahrscheinlich, dass sie alle schon miteinander gearbeitet haben«, werfe ich ein.
»Ohne den Ensemblegeist wäre ich verloren. Die meisten Schauspieler_innen kennen sich untereinander und haben einen Grad an Vertrautheit erreicht, der nur über Jahre entstehen kann. Sie wissen, dass eine Performance aus ihren Interaktionen geschaffen wird und nicht entstehen würde, wenn alle nur auf ihren Soloauftritt bedacht wären. Sie sind an diese Art der Schauspielerei gewöhnt und sind sich bewusst, dass es möglich ist, das Publikum glauben zu lassen, dass sie nicht schauspielern.«
Thomas Ostermeier beschreibt Maja Zades Text als »umgangssprachlich«, Dinnergäste führen Smalltalk, der sich an der Oberfläche bewegt.
»Ich bin besessen von realistischem Verhalten und umgangssprachlicher Konversation. Im deutschsprachigen Theater gelingt das leider selten, wenn Regisseure mit zeitgenössischen Texten arbeiten, übertreiben sie es häufig. Im angelsächsischen Raum gibt es da eine andere Tradition gut gemachter Stücke in Umgangssprache. Ich versuche, noch weiter zu gehen als bisher, in dem ich die Schauspieler_innen in Headset-Mikrofone sprechen lasse und das Publikum Kopfhörer tragen muss, um sie zu verstehen. Im besten Fall fühlt es sich für die Zuschauer_innen tatsächlich so an, als säßen sie selbst mit am Tisch. Und wenn die Schauspieler_innen ihre Stimmen nicht verstärken müssen, können sie tatsächlich die Feinheiten des Smalltalks herausarbeiten und Intimität schaffen. Die Technik mit den Kopfhörern erlaubt es uns außerdem, mit Frequenzen und Geräuschen zu arbeiten, die es im Theater normalerweise nicht gibt. Da es 53 Szenenwechsel gibt, bleibt viel Raum für Sounddesign und Musik, die der dargestellten Welt eine weitere Ebene der Seltsamkeit und auch des Horrors hinzufügen.«
Während ich Zades Text auf der Bühne lausche, denke ich an dessen visuelle Poesie. Eine der Schauspielerinnen hat mir von ihrer ersten Reaktion auf den Stücktext erzählt: Ein sehr schöner Text, aber ich habe keine Ahnung, wann ich sprechen muss! In der Tat hat das Stück keine festgeschriebenen Rollen, sondern liest sich mehr wie ein langes Gedicht in Prosaform, und ist fast hermetisch elegant. Hier ein Beispiel:
wenn
wenn bettina eine sekunde früher in das zimmer gegangen wäre
wenn pia nicht aufgewacht wäre
wenn gertrud wach geworden wäre
wenn pia am tisch geblieben wäre
wenn das babyphon lauter gewesen wäre
wenn sie
wenn sie
wenn er
wenn die beiden
wenn du
wenn ich
ich
»Der Text hat mich beim ersten Lesen total begeistert.«, sagt Ostermeier. »Mir ging es wie dir: Er ist sehr poetisch, klar, gut komponiert, man könnte ihn fast ein langes Gedicht nennen. Es ist dann ehrlich gesagt fast schade, dass durch die Entscheidung, wer was wann sagt ein echtes well-made play daraus wird und die Schönheit des Textes zurücktritt. Gleichzeitig bekommt man aber auch etwas zurück, als würde ein Wesen aus dem Text geboren: Der Text kommt zu Atem, man erkennt, was wirklich passiert – besonders im dreidimensionalen Raum der Bühne, auf der mehrere Erzählstränge verfolgt werden und der Zuschauer nach und nach begreift, welche Katastrophe im Zentrum steht.«
Diese Katastrophe – was genau passiert, werde ich hier nicht verraten – kann als der »Abgrund« im Stück begriffen werden, ein Wort, das sowohl einen physischen als auch einen psychischen Abgrund beschreibt. Das Stück und sein Titel sind offen für Interpretation. Mich bringt es auf jeden Fall dazu, alle möglichen Interpretationen heranzuziehen. Und die Verwendung von Gaze-Wänden vor und hinter den Schauspieler_innen, die eine doppelte Videoprojektion möglich machen, unterstreicht für mich noch die Fülle an Deutungsmöglichkeiten. Die Projektionen erzeugen das Gefühl, dass die Realität des Stücks aus mehreren Ebenen besteht. Manchmal sind sie unscharf und dadurch mehrdeutig, doppelbödig. Und gleichzeitig sorgt der Minimalismus des Bühnenbilds dafür, dass man die Schwärze drumherum stärker wahrnimmt, sich diese Dunkelheit an einen heranschleicht. Hier wird für mich der »Abgrund« des Stücktitels bildlich spürbar. Aber vielleicht ist das auch nur meine Interpretation …
»Ich bemühe mich, mir nicht jeden Moment darüber im Klaren zu sein, wohin das Stück führt«, sagt Ostermeier. »Manchmal versuche ich, einer Wahrheit im Kern des Stücks näher zu kommen, die weder Maja noch ich kennen. Ich kann dir nicht sagen, was am Ende dabei herauskommen wird: Ob es mehr Lacan oder Bourdieu sein wird oder keiner von beiden.«
Das »Habituskonzept« und der Begriff des kulturellen Kapitals des französischen Soziologen Pierre Bourdieu sind eine Linse, durch die sich die Handlung betrachten lässt. Bourdieu sagt, dass das kulturelle Kapital einer Person – welches ihr soziale Mobilität in der Klassengesellschaft ermöglicht – mit ihrem »Habitus« in Verbindung steht: Das Wissen um kulturelle Marker, die sie geerbt hat, die Objekte von kulturellem Wert, die sie in ihrer Wohnung angesammelt hat (wie zum Beispiel ein Eames-Stuhl) oder ihre Position innerhalb der Gesellschaft.
Lacans Konzept des »Realen« findet sich dagegen vielleicht im »Abgrund« des Stücks wieder, welcher sich jeder Symbolik entzieht und den man nicht auf eine Bedeutung reduzieren kann.
Was beide Denker heutzutage möglicherweise teilen, ist ihr Eingang in das kulturelle Kapital selbst: Lass einen der beiden Namen auf einer Dinnerparty fallen und beobachte dann, wie dein Kurswert steigt ...
Ostermeier erzählt mir, wie kulturelles Kapital an einem solchen Abend funktioniert: »Da ist die Vertrautheit eines Essens unter Freunden, bei dem die einen für die anderen kochen. Aber eigentlich redet niemand wirklich miteinander. Alles, was sie sagen, hat den gleichen Wert, egal ob über Geflüchtete oder Trüffel in der Suppe gesprochen wird. Während der Proben haben wir über Bourdieu nachgedacht und über den konkurrierenden Austausch von kulturellem Kapital in sozialen Situationen. Wer hat die beste Geschichte, die unglaublichsten Nachrichten, den schockierendsten Klatsch oder Spezialwissen über Popkultur, Kunst, Design oder Politik? Alle diese Themen haben den gleichen Wert, weil es nicht darum geht, sich in Themen zu vertiefen, sondern um den eigenen Marktwert, darum, der oder die Beste zu sein.«
»Gibt es einen Grund dafür, dass dieser ›Wettbewerb‹ gerade in einer Küche im Prenzlauer Berg stattfindet?«
Ostermeier schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. »Prenzlauer Berg! Ehrlich gesagt kann ich es nicht mehr hören. Schon in meiner Produktion ›Nora‹ in 2002 haben wir diese Welt thematisiert. Es war nicht explizit der Prenzlauer Berg, aber mich hat diese ›neue Mitte‹ interessiert: Menschen, die von Start-up-Karrieren während der sozialen Neuerfindung Deutschlands träumten, als sie ein paar Jahre verspätet die Reagonomics und den Thatcherismus verinnerlicht hatten. Es ist diese junge, urbane Berufswelt von Menschen mit Geld und erlesenem ästhetischen Geschmack. Sie wissen immer, was der letzte Schrei ist, ob in der Kunst, im Theater oder in der Musik. Das war in Deutschland etwas Neues. Deutschland hatte immer reiche Leute, aber es war ihnen selten wichtig, zeitgemäß zu sein: Sie wollten ihre Villa, ihren Bentley, auf die Jagd gehen und einen traditionellen Lebensstil des ›alten Geldes‹ leben. Jetzt versuchen die neuen Reichen nicht mehr, diese Menschen zu imitieren. Stattdessen kaufen sie ein Loft in einem ehemaligen Industrieviertel und leben ein Leben, das genauso auch in Sydney, London oder Vancouver stattfinden könnten. Sie zeigen ihren Reichtum auf unterschiedliche Weise: indem sie Champagner zu ihrer Pizza bestellen. Viele dieser Leute im Prenzlauer Berg haben ihre Wohnungen mit dem Geld ihrer Eltern gekauft, und haben nun ein Identitätsproblem. Sie performen den Prenzlauer Berger. Sie wissen jedoch nicht, was sie da eigentlich spielen, da sie gleichzeitig versuchen, eine andere Welt als die ihrer Eltern aufzubauen. Der größte Vorwurf ist, dass sie genau dasselbe tun wie ihre Eltern, nur mit anderer Kleidung und Musik. Und sie wiederholen auch die patriarchalischen Muster ihrer Eltern, wobei die Frau zu Hause die Kinder großzieht. Sie nehmen kulturelles Kapital genauso wichtig wie in bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts, aber ihre Marker unterschieden sich.«
»Aber hinter dieser Oberfläche des kulturellen Wettbewerbs lauert der Abgrund, oder vielleicht auch das ›Reale‹ … «, werfe ich ein.
»Es ist nicht so, dass diesen Figuren der Abgrund bewusst ist oder sie ständig damit beschäftigt sind, sich davon abzulenken. Was Maja mit der Katastrophe im Stück macht, ist zu zeigen, wie diese Menschen nicht damit umgehen, ihr nicht ins Auge blicken können. Das bringt ihre Leere und Unsicherheit, ihre Unfähigkeit, menschlich miteinander umzugehen, zu Tage. Die Frage nach Empathie steht im Mittelpunkt des Stücks. Das Stück feiert nicht die Misanthropie, sondern spiegelt sie eher wider. Und indem es uns den Spiegel vorhält, will es uns animieren, dieses Verhalten zu überwinden. Die ›Katastrophe‹ könnten viele Dinge sein: Ein Terroranschlag, eine schlimme Krankheit, ein Busunfall. Aber das ist nicht der Kern des Stücks. Es geht darum, die Figuren mit etwas zu konfrontieren, das sie nicht in einen Rahmen setzen können, für das niemand die Schuld trägt oder verantwortlich gemacht werden kann – selbst wenn vier Leben zerstört worden sind.«
abgrund
von Maja Zade
Regie: Thomas Ostermeier
Uraufführung
Saal B
Premiere war am 2. April 2019
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