Champignol in Farbe – oder: Komödie wider Willen
von Joseph Pearson
09. Oktober 2018
Auf der Probebühne rückt zunächst ein riesiges Porträt der aus den Wellen aufsteigenden Venus in mein Blickfeld. Das Bild lehnt kopfüber an einer Wand – und auch die Schauspieler_innen scheinen Kopf zu stehen. Eben im Hof habe ich noch beobachtet, wie sie seltsame Gangarten ausprobiert haben, beim Kaffeemachen in der Küche wurden Grimassen gezogen, höchst theatralisch Texte vorgetragen, wild gestikuliert und sich in Zuckungen gewunden.
An Herbert Fritschs Inszenierung von Georges Feydeaus Vaudeville-Wunder »Champignol wider Willen« zu arbeiten hat offensichtlich Auswirkungen auf das normale Leben. Oder haben die Schauspieler_innen an diesem Montagmorgen einfach nur richtig Lust auf Slapstick? Kommen die »inneren Tiere« zum Vorschein und alle auf und neben der Bühne sind ein kleines bisschen durchgeknallt?
Fritsch liefert mir lachend die Erklärung: »Die Schauspieler sind einfach ständig dabei, stecken immer in ihren Rollen, sie arbeiten ständig am Material. Manchmal wirkt sich das sogar aufs Publikum aus … Ich erinnere mich an eine Aufführung von ›Was ihr wollt‹, in der ich Sir Andrew Aguecheek gespielt habe. Nach der Vorstellung konnte ich Zuschauer beobachten, die genauso seltsam gingen, wie ich vorher auf der Bühne.«
Tatsächlich wirkt das Zusammenspiel von Sprache und Bewegung in einer Fritsch-Produktion sehr ansteckend. Den Worten wird körperlich Ausdruck verliehen, der Körper ist wie ein Seismograph, ein Lautsprecher, den Geräusche zum Zittern bringen.
Die Probe beginnt mit dem extrem komplizierten zweiten Akt. Herbert Fritsch ist auf die Bühne gesprungen, wo er blitzschnell eine Haltung einnimmt, um dem Schauspieler den Ausdruck zu vermitteln, den er sich wünscht. Fritschs drahtiger Körper bewegt sich präzise – er ist schließlich selbst Schauspieler. »Genau so«, erklärt er.
Feydeaus Stück ist sehr genau in der Beschreibung: Wo sollen die Schauspieler_innen stehen, welche Gesten sollen wie ausgeführt werden. Die Dramaturgin Bettina Ehrlich berichtet, dass es geradezu unmöglich war, das Stück zu kürzen, weil es so dicht geschrieben ist. Die Dekonstruktion der Texte, wie wir sie letzte Spielzeit in Fritschs »Zeppelin« gesehen haben, ist hier kaum möglich. Dieses Stück animiert zum Durchspielen von vorn bis hinten.
Der zweite Akt spielt beim Militär. Es gibt einen Fall von Identitäts-Verwechslung. Der falsche Champignol wurde einberufen und um es noch schlimmer zu machen, taucht kurz darauf auch noch der echte auf. Hier werden Hierarchien und kleinliche Machtkämpfe ins Lächerliche gezogen.
Robert Beyer spielt einen verrückten und machthungrigen Offizier, der den Appell durchführt. Die Soldaten winden sich in Reih und Glied. In der Tat sind eine ganze Menge Leute auf der Bühne. Einige von ihnen sind Schauspiel-Studierende der Universität der Künste Berlin (UdK) im ersten Studienjahr und stehen zum ersten Mal auf einer professionellen Bühne.
»Wie ist es, mit so jungen Spielern im Gegensatz zu erfahrenen Schauspielern zu arbeiten? Arbeitest du anders mit ihnen?«, frage ich.
»Nein, eigentlich nicht«, sagt Fritsch. »Ich arbeite mit ihnen genau so, wie mit den anderen. Es gibt keinen Unterschied, alle machen dieselbe Arbeit. Ich möchte ihnen nicht das Gefühl geben, dass sie Studierende sind. Ich habe auch kein Casting gemacht, als ich mich an die UdK gewandt habe. Ich habe mit ihnen gesprochen und sie alle eingeladen, dabei zu sein. Und ich liebe ihre Energie; es ist eine sehr willkommene Zusammenarbeit.«
»Mon capitaine!«, rufen sie auf Französisch, »Mon lieutenant!«. Eine perkussive Musik untermalt das Geschehen. Fritsch beschreibt seine Arbeiten als opernartig. Seine letzte Produktion war auch tatsächlich Mozarts »Cosi fan tutte« in Hamburg.
»Der Text muss tanzen und singen«, sagt Fritsch. »Die Bewegungen müssen musikalisch sein, das Sprechen beinahe zum Singen werden. Das Stück lebt durch seine Musikalität, ich möchte, dass es international verstanden werden kann, auch wenn Deutsch gesprochen wird. Ich bringe nicht nur den Inhalt des Stücks auf die Bühne, sondern auch dessen musische Komponente. Ich ziehe das Musische dem Didaktischen vor. Wenn Theater didaktisch wird, ist das für mich das Ende des Theaters.«
Vielleicht ist es also ganz natürlich, auf Mozart Feydeau folgen zu lassen? Und doch ist die Rhythmik dieser Produktion ganz anders: Unkonventionell, mit Freude am Lauten und Ruckartigen, am Stolzieren, Kriechen, Tänzeln. Die schnellen Gesten – tick-tack – erinnern mich an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Slapstick«. Der Name stammt von einem klappbaren Stock, der beim Schlagen ein lautes Geräusch erzeugt.
»Aber es ist nicht nur musikalisch, es ist auch körperlich«, behaupte ich.
»Es ist ein Tanz«, antwortet Fritsch.
Die gestische und akustische Komposition wird durch Fritschs umfassende Nutzung des Raums vervollständigt. Die Schauspieler_innen rasen über die Bühne, verstecken sich hinter einem riesigen Sofa, bevor sie sich an den Bühnenrand schleudern, um sich gegenseitig zu spiegeln.
»Sie müssen den Raum nutzen, ihn füllen«, sagt Fritsch. »Auch wenn ein Schauspieler allein auf der Bühne ist, muss er den Raum nutzen. Ich möchte, dass die Schauspieler auf der Bühne viel Raum einnehmen, weil das den Text zusammenhält.«
*
Nach der Probe sitzen Fritsch und ich draußen in der Herbstsonne und reden über das Genre der Komödie und dessen historische Dimension.
»Wenn ich an den Einfluss von Brecht denke, habe ich das Gefühl, dass es im deutschen Theater die Erwartung gibt, dass Theater eine Distanz herstellen muss. Und das wird dann häufig noch von einer schweren Ernsthaftigkeit begleitet. Was mich an deiner Arbeit beeindruckt, ist, dass sie zwar Distanz schafft, aber durch ihre musikalische Qualität unglaublich heiter ist. Warum ist Verfremdung so oft mit Traurigkeit verbunden?«, frage ich.
»Darauf gibt es keine einfache Antwort«, erwidert Fritsch. »Aber ich denke, das deutsche Gefühl der Schuld und die Angst, Freude zu zeigen, haben etwas damit zu tun. Und ich glaube, dass das ein Fehler ist. Ich habe schon oft gesagt, dass das, was in den zwanziger Jahren erschaffen und von den Nazis zerstört wurde, wert ist zurückerobert zu werden. Die Nazis haben versucht, das Komische auszurotten, also ist es unsere Aufgabe, das zurückzubringen. Man sagt, die Deutschen haben keinen Sinn für Humor, aber das stimmt nicht. Ich finde auch Wagner urkomisch, aber er wird immer so bedeutungsschwer aufgeführt.«
»Also ist die ›Vergangenheitsbewältigung‹ unvollständig, wenn es um die Komödie geht? Weil wir denken, dass wir einen ernsten Ton anschlagen müssen, wenn wir ernste Dinge besprechen und so die Komödie, die verloren gegangen ist, aus den Augen verlieren?«, frage ich.
»Ja. Zum Beispiel sind die Leute oft schockiert von den grellen Farben, die ich verwende. Aber denk mal darüber nach, was die Alternative wäre. Wäre es denn besser, wenn alles braun wäre? Braun!«
Dann berichtet Fritsch, dass es ihm zunächst Sorge bereitet hat, ein Stück mit so vielen Armee-Szenen auf die Bühne zu bringen, er dann aber entschieden hat, es einfach durch die Komik zu »entmilitarisieren«. Tatsächlich müssen künstlerische Antworten auf Faschismus und Militarismus ja nicht zwingend ernst sein. Vielleicht trägt Fritschs Inszenierung auch dazu bei, dass Komödien auf Berliner Bühnen allgemein im Ansehen steigen.
Auch Georges Feydeaus (1862-1921) Arbeiten wurden mit der Zeit immer ernster genommen. Ursprünglich waren sie als Slapstick und Vaudeville konzipiert – Genres, von denen man eher keine psychologische Tiefe oder moralische Forderungen erwartete. Doch später gingen sie aufgrund ihrer ausgeklügelten Struktur und dem beinahe existenzialistischen Humor in den Kanon der französischen Literatur ein. Feydeau wurde als wichtigster Humorist nach Molière angesehen und seine Stücke wurden immer wieder Teil des Repertoires der Comédie-Française. Im Französischen bedeutet das Wort »comédie« tatsächlich sowohl »Theater« als auch »Komödie«.
Feydeau ist also ein guter Ausgangspunkt, um sich weitergehend mit kritischen Debatten um die Bühnenkunst und den Stellenwert der Komödie zu beschäftigen. In der Geschichte der Literaturwissenschaft gab es immer wieder Diskussionen über die vermeintliche Überlegenheit der Tragödie gegenüber der Komödie. Philosophen von Aristoteles bis Nietzsche haben so argumentiert. Die Komödie galt als Ort für ordinäre Charaktere, oberflächliche moralische Fragen, simple Zerstreuung und seichte Gefühle. Während, wie es William Hazlitt ausdrückte, die »Tragödie die leidenschaftlichste Form ist«, weil sie uns »in die größten Tiefen der Leidenschaft und des Erhabenen« führt.
Aber ist es aus Sicht der Praktiker – Autor_innen, Regisseur_innen, Schauspieler_innen – wirklich leichter, das Publikum Mitleid oder Angst fühlen zu lassen, als Freude? Die Schauspielerin Vivien Leigh (»Vom Winde verweht«) formulierte es so: »Komödien sind viel schwieriger als Tragödien, und eine viel bessere Ausbildung, denke ich. Es ist so viel leichter, Leute zum Weinen als zum Lachen zu bringen. Komödien sind für den Schauspieler ein Drahtseilakt, im Tragischen kann man sich suhlen.«
Sind die Gefühle, die durch Komik ausgelöst werden – Empathie, Selbstkritik, das Erkennen von Eitelkeiten und Machtstrukturen – wirklich so viel weniger komplex? Vielleicht sind das auch genau die Zutaten, die wir im Antifaschismus brauchen; gefunden an einem ganz unerwarteten Ort: einer farbenfrohen Feydeau-Komödie inszeniert von Herbert Fritsch.
Aus dem Englischen von Franziska Lantermann