Schöpferische Unruhe: Milo Raus »LENIN«

von Joseph Pearson

02. Oktober 2017

Ich öffne die Tür und lande in einem verdunkelten Probenraum. In der Finsternis, unter dunkel gefärbten Balken, liegt eine in goldenes Licht getauchte Drehbühne. Hier wird eine Welt erschaffen; es ist als wäre ich mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit gereist, in eine russische Datscha im Herbst des Jahres 1923. Lenin verliert den Bezug zur Wirklichkeit; Stalins Macht wächst. Wir sehen Schlüsselmomente der historischen Machtverschiebung, Momente die darüber entscheiden werden, welche Form des Kommunismus – Leninismus, Trotzkismus oder auch Stalinismus? – in den kommenden Jahrzehnten dominieren wird.

Klassische Marxisten erachten die Rolle des Einzelnen als nebensächlich für den Lauf der Geschichte, doch hier sind wir Zeuge persönlicher Kämpfe in einem intimen, häuslichen Rückzugsort. Milo Rau erzählt: »Ich bin daran interessiert, die Wahrnehmung des Sozialismus und auch die Wahrnehmung von Lenin in Westeuropa und Deutschland unabhängig von den popkulturellen Klischees zu betrachten. Wie waren diese Persönlichkeiten privat?« Rau interessiert sich außerdem für den, wie er es nennt, »internen Druck in politischen Gruppierungen – wie die RAF – die zeitweilig die Nase voll haben oder paranoid werden. Eine Datscha ist der perfekte Ort für diese Entwicklungen, weil sie so klaustrophobisch ist«. Wir folgen den Aufnahmen der Videokameras, die auf einen großen Bildschirm über der Datscha projiziert werden und wandern durch die Räumlichkeiten – vom Wohnzimmer zur Küche, über das Schlafzimmer zum Badezimmer – alle Räume von zahlreichen Schauspielern und Crewmitgliedern bewohnt. Die Kameras linsen durch Türspalte, von einem Ort zum nächsten bis zur Terrasse, wo nächtliche Geräusche zu hören sind. Lenin steigt aus der Badewanne und trocknet sich mit einem Handtuch ab.

»LENIN«, wird am 19. Oktober Premiere feiern und unterscheidet sich von den bisherigen Stücken, die Milo Rau an der Schaubühne gezeigt hat. Ein Stück größeren Ausmaßes! Die »Europa Trilogie« war auf die Monologe einiger weniger Schauspieler fokussiert. »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs« war so minimalistisch, dass nur zwei Schauspielerinnen beteiligt waren. Jetzt spielt eine große Besetzung in einer technisch aufwändigen Produktion, die ausgiebig Gebrauch von den Erfahrungen der Schaubühne mit anderen herausfordernden Stücken, wie denen von Katie Mitchell, macht.

Und doch besteht eine Kontinuität zu Raus früheren Produktionen. Zum einen die Beschäftigung mit dokumentarischen Quellen, zum anderen das hochdetaillierte Bühnenbild, das typisch für Rau ist. Es ist unwiderstehlich: In der Probenpause kann ich mich nicht zurückhalten, durch die Räume dieser Welt zu spazieren, die Bühnenbildner Anton Lukas zusammen mit Silvie Naunheim geschaffen hat. Ich möchte mir die alten Zeitungen auf den Tischen mit ihren verzierten Deckchen aus der Nähe ansehen. Ein Besen, der in der Ecke steht. Handtücher, die oberhalb der Badewanne unordentlich gestapelt liegen. Ein Bett mit zerwühlten Laken. Eine Schreibmaschine auf dem Boden neben dem Bett. Ein alter Medizinkoffer auf einem Stuhl. Bücher, die drohend auf einem großen Regal am Kopfende von Lenins Bett stehen.

Jedes Objekt hat einen spezifischen Nutzen, nichts ist bloß dekorativ; »Nutzen« erschafft eine Stimmung, eine Ästhetik. Brauchbarkeit für den Menschen beherrscht auch die Bühne: Die Datscha ist nicht der klassische Rückzugsort für ihre Bewohner, sondern ein funktionaler Raum. Jeder Schauspieler wirkt beschäftigt, auch wenn er oder sie nur vor einem Schachbrett sitzt. Auch die Themen der Handlung streifen den Gebrauchswert. Die sowjetischen Führer arbeiten sich durch die Schlüsselperiode der Revolution von Lenin zu Stalin. Individuelle Entscheidungen – wie die Entscheidung über die Veröffentlichung Lenins Testaments 1922, das vor Stalin warnt – werden den Verlauf der Umsetzung kommunistischer Ideen im 20. Jahrhundert mehr beeinflussen, als große soziale Bewegungen.

Die Probe geht weiter. Ich begebe mich wieder zu meinem Stuhl ins Dunkle und muss auf dem Weg aufpassen, nicht über Kabel oder in den Dramaturgen zu stolpern. Stalin, gespielt von Damir Avdic, sitzt auf der Terrasse und seine aufgeladene Energie zerrt an einem. Ein Bildschirm leuchtet auf und ich sehe Lenin, das ätherische Gesicht der Schauspielerin Ursina Lardi. Es scheint als würde sie einen direkt ansehen, aber ihr Köper ist mysteriöser Weise im Verborgenen. Sie spricht von Beethoven, der Klaviersonate »Appassionata«. Der langsame Satz erklingt, Andante con moto. Und plötzlich erscheint die ganze Datscha in bourgeoisem Glanz.

Marx hat geschrieben, dass der Bourgeoisie im Frühstadium der Revolution eine heldenhafte Rolle zukommt. Dass Klassen die Bedingungen dafür schaffen, dass eine neue Welt geschaffen werden kann. Möglicherweise ist die gesamte Bühne – ausgestattet mit abgetragenen, bourgeoisen Möbeln und Stillleben – nichts anderes als die Haut einer Schlange. Deutet die sich ständig im Kreis drehende Bühne und die darauf befindliche funktionale Ausstattung mit all ihren Widersprüchen und Synthesen hier eine Dialektik an?

Ich verwende dieses Wort nicht unbedacht. Rolf Bossart, dessen Essay »Der Name Lenin« wichtig für die Produktion ist, bezieht sich auf die Arbeiten von Boris Groys, wenn er über die »schöpferische Unruhe« des leninistischen Denkens spricht, wohingegen »Stalin aus der beweglichen Dialektik Lenins ein Dogma des Stillstands machte«. Dieses Dogma findet schließlich Entsprechung in Lenins mumifizierter Leiche, die Stalin gegen den Willen der Witwe des Verstorbenen ausstellte. Die Inszenierung spielt in vielerlei Hinsicht mit dem, was die Drehbühne tut – der Verweigerung von Stillstand.

Können wir so auch heute noch Politik machen? Und nicht nur Theater?

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Milo Rau und ich setzen uns zum Interview zusammen. Milo ist ein unbefangener, 40-jähriger Vater von zwei Kindern, der sich selbst nicht zu ernst zu nehmen scheint. Er ist gesellig und hat keine Angst davor zu lächeln; tatsächlich strahlt er. Ich habe die Vermutung, dass diese Haltung gesund für jemanden ist, der an so schweren Themen wie Gerechtigkeit, Aufstände, Migration oder Völkermord – also den Themen von Milo Raus International Institute of Political Murder – arbeitet. Ich frage Rau nach dem schwierigen Thema seines aktuellen Projekts – dem Erbe des Kommunismus – und wie er den Übergang vom Leninismus zum Stalinismus wahrnimmt.

Er antwortet: »Auch mein Stück ›Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs‹ stellt schon die Frage: Wenn nicht alle Menschen auf der Welt ein gelungenes Leben haben, beschränken wir uns dann darauf, uns nur mit der erfolgreichen Zukunft einer kleinen Gruppe zu befassen? Lenin fragt: Worauf warten wir denn eigentlich? Wenn nicht alle frei sind, ist keiner frei. Wenn die Revolution nicht global ist, dann ist sie nicht passiert. Das ist die Wahrheit der Marxistischen Revolution: Man kann nicht in einem einzelnen Land, in einer Partei oder bei einer kleinen Gruppe erfolgreich sein. Aber 1923 ist gerade die Revolution in Deutschland gescheitert, trotz anhaltender Straßenschlachten in Hamburg. Nach diesem Fehlschlag gewinnt das stalinistische Ein-Land-Revolutionsmodell die Überhand. Lenin stirbt. Trotzki wird von der Partei isoliert. Fragen der Identitätspolitik – wie die Einbeziehung von Frauen in Machtpositionen – werden von Fragen des Klassenkampfs getrennt. 1923 ist der Zeitpunkt an dem wir sagen können, der Kommunismus ist gescheitert. Von da an geht es nur noch um russische Machtpolitik.«

Die Brutalität des Stalinismus, die aus diesem Übergang hervorgegangen ist, ist für viele Menschen heutzutage der Inbegriff von Kommunismus. Rau versucht nicht zu verschleiern, was die Sowjets im Endeffekt aus der Ideologie gemacht haben. Die Gewalttätigkeit des sowjetischen Projekts wird auf der Bühne durch die Anwesenheit von zwei Kindern, die Deutsch und Russisch sprechen, sogar noch hervorgehoben. Ich frage Rau nach ihrer Rolle im Stück.

Rau erzählt von einer Szene im Stück: »Lenin wendet sich an eins der Kinder und sagt, dass er es gerne erschießen, mit dem Bajonett aufspießen und in ein Massengrab werfen würde. Lenin fragt ›Würde dir das gefallen?‹ und das Kind antwortet ›Ja, Führer‹. Es gibt einen Grund für diese brutale Diskussion. Das Problem des Theaters, als Kunstform, ist es, die Ästhetik des Schreckens immer weiter zu steigern, um das, was auf der Welt passiert, was Menschen tun, auf die Bühne zu übersetzen. Es berührt jeden, ein siebenjähriges Mädchen oder einen neunjährigen Junge auf der Bühne zu sehen. Die Anwesenheit von Kindern – die erstaunlich gut sind, und das erst an ihrem zweiten Tag auf der Bühne – sorgt für eine vollkommene Veränderung unserer Wahrnehmung von Terror. Das hat eine unmittelbare Auswirkung darauf, wie einfühlsam sich Erwachsene verhalten.« Tatsächlich ist die Anwesenheit von Kindern in dieser Umgebung umso erschreckender, da sie die Brutalität des Gesagten gar nicht zu verstehen scheinen. Dennoch sind sie die Erben einer Revolution, die aus den Fugen geraten ist.

Doch während ich schnell darin bin, ein Urteil zu fällen und die Revolution als gescheitert anzusehen, ist Rau nuancierter. Rau nennt die Welt, die er erschaffen hat, »vom Wesen her assoziativ« – eine Welt, die sich einer einfachen Botschaft verweigert. 1923 befinden wir uns immer noch im Moment der Veränderung, die rotierenden Räume der Datscha verändern die sowjetischen Führer. Lenin entwickelt sich von einer Frau, gespielt von Ursina Lardi, zu der glatzköpfigen, bärtigen Ikone, die wir aus den Filmen des sozialistischen Realismus der 30er Jahre kennen. Die Bühne wird von einer mehrsprachigen Welt schließlich zu einem einsprachigen Ort, gefilmt in Schwarz-Weiß. Doch jetzt ist die Revolution noch im Gange und widersteht vorhersehbaren Handlungen oder vereinfachenden Charakterisierungen. Die Produktion erwehrt sich auch, das simple neoliberale Verlangen zu befriedigen und dadurch eine einfache Botschaft zu haben oder einfach »Entertainment« zu sein.

Rau lehnt sich zurück und erzählt mir, dass er über solche Markterwartungen längst hinaus ist: »Ich finde es ärgerlich, dass Kunstwerke, die sich einer linearen Erzählweise verweigern, häufig weniger positiv bewertet werden. Aber ich bin auch überzeugt, dass wir uns davon nicht zu sehr beeindrucken lassen sollten«. Ich merke an, dass eine Produktion, die sich den Kriterien des Marktes widersetzt, paradoxerweise gerade erfolgreich ist, weil sie dadurch dem Publikum Respekt zollt.

Milo Raus neue Produktion ist vom Wesen her wohl eher Leninistisch als Stalinistisch (mit, wie ich sagen würde, einer Marxistisch-analytischen Würdigung der Rolle der persönlichen Wirkmacht). Ihr assoziativer Geist ist näher an dem, was Bossart so formuliert: »Lenins Denken und Handeln dehnte die vorhandenen Spannungen, arbeitete strategisch mit allen Widersprüchen und brachte sie in Extrempositionen zur Wirkung. So ergab sich eine maximale Freiheit und Beweglichkeit in den Optionen des politischen Handelns. Aber ebenfalls eine maximale Instabilität und destruktive Unruhe.«
Und dann dreht sich die Bühne wieder – zum Sound einer tickenden Uhr, die ein Kind sich ans Ohr hält – und wir werden zurück in die Zukunft gerissen.

Aus dem Englischen von Franziska Lantermann.

LENIN

von Milo Rau & Ensemble
Regie: Milo Rau

 

 

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Premiere war am 19. Oktober 2017

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