Sekt oder Champagner? Ungefähr gleich – Mina Salehpour nimmt Komödien ernst
von Joseph Pearson
05. Februar 2016
Mina Salehpour (*1985, Teheran) ist an der Schaubühne bereits bekannt: beim F.I.N.D.-Festival 2014 feierte ihre Inszenierung von »Dieses Grab ist mir zu klein« Premiere, eine Komödie über die Ermordung des Kronprinzen Franz Ferdinand im Jahr 1914 – zeitlich passend zum 100-jährigen Jahrestag des Ersten Weltkriegs. Sollte das für Sie etwas pietätlos klingen: willkommen im Reich von Mina Salehpour. Beide Stücke, »Dieses Grab...« und ihre neue Produktion »≈ [ungefähr gleich]« des schwedisch-tunesischen Autors Jonas Hassen Khemiri, weichen von der Tradition, »ernsthafte« Themen auch »ernsthaft« behandeln zu müssen, ab.
»Die Herausforderung und gleichzeitig auch das Tolle daran, ernsthafte Themen mit Humor zu behandeln, ist es, das Komische im Tragischen zu finden, oder das Tragische im Komischen«, erzählt Salehpour. »Auch wenn es schwierig ist, es ist die Mühe wert. Und ich kann auf eine lange Tradition in Deutschland zurückgreifen, ich denke da zum Beispiel an meinen Lieblingsheld George Tabori.«
»Die Herangehensweise ist trotzdem riskant. Ich habe mich mit Themen wie Nazismus oder Flüchtlingen beschäftigt und bin besonders in Deutschland dafür kritisiert worden, diese Themen nicht ernst genug zu nehmen. Mir wurde immer wieder gesagt, meine Arbeiten seien zu absurd, dass ich zu viele Witze machen würde, oder dass es sogar arrogant sei. Aber das ist nicht meine Absicht. Ich möchte vielmehr Dinge durch Lachen aufbrechen und zur Diskussion anregen. Ich denke, »kritisch« ist eine bessere Beschreibung für meine Herangehensweise, weil es darum geht, Distanz zu schaffen. Man bleibt kein Gefangener des Systems. Stattdessen erreicht man, im Brecht’schen Sinne, einen V-Effekt (Verfremdungseffekt). Mir geht es nicht darum, dokumentarisch zu erzählen, sondern in Form von Fabeln«, endet sie.
In der Tat erlangt man möglicherweise eine bessere Perspektive auf schwierige Themen, wenn man über sie lacht und quasi über ihnen schwebt, ohne sie dabei weniger ernst zu nehmen.
Es war Aristoteles der schrieb, dass Komödien schwerer zu schreiben sind, als Tragödien. Ich glaube, er meinte dabei nicht die Komödien, die unseren Alltag einfach als absurd abtun, als Slapstick, oder eine Reihe von Witzen, sondern solche Komödien, die das Leiden derer lindern, die sich den Mächtigen unterordnen müssen. Diese Form der Komödie widersetzt sich der Macht, indem sie ihre Legitimität mit Gelächter zerstört (untergräbt).
Khemiris »≈ [ungefähr gleich]« erinnert mich an seinen Berliner Vorgänger, Falladas »Kleiner Mann – was nun?«. Sowohl Khemiris Andrej als auch Falladas Pinneberg sind Männer, die sich machtlos fühlen im Angesicht der großen kapitalistischen Maschinerie. Während Fallada sich auf die innige Beziehung eines Paares konzentriert, die wie ein Schild gegen die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus wirkt, zeigt Khemiri, wie der Neo-Liberalismus selbst in diese Sphäre eindringt, und auch unser Geist von dessen Wertedenken gefangen genommen wird.
In einer sehr aufschlussreichen Szene in »≈ [ungefähr gleich]« betritt Andrej einen Laden, um eine Flasche Champagner zu kaufen.
Salehpour berichtet von ihren eigenen Erfahrungen mit Vorurteilen: »Wer kennt das nicht – obwohl ich natürlich eine Menge Leute kenne, die das eben nicht kennen – man geht in einen Laden und sagt ›Ich hätte gerne dies und jenes‹ und dann gucken einen die Verkäufer an und fragen ›Sind Sie sich sicher?‹. Und genau darum geht es in dieser Szene. Und dann erwische ich mich dabei, wie ich mich besonders gewählt ausdrücke, um die Situation auszugleichen, mit extra komplizierten Konstruktionen und noch ein paar Fremdwörtern, um zu sagen: ›Ich kaufe, was ich möchte, Bitch.‹«
Es lohnt sich, diese Szene zu beschreiben, um die Nuancen des Stücks aufzuzeigen. Zuerst wird Andrej vom Verkäufer gefragt, ob er nicht lieber statt einer Flasche Champagner eine Flasche Sekt (die er vermutlich eher bezahlen kann) kaufen möchte. Der Sekt ist schließlich »ungefähr gleich« wie eine Flasche Champagner, auch wenn er sich hinsichtlich des Preises und des angenommenen Prestiges unterscheidet.
Zunächst besteht Andrej auf den Champagner, da er zur Feier seines Abschlusses nur »das Beste« kaufen möchte. Aber als er dann darüber nachdenkt, was er sich stattdessen alles für die 40 Euro kaufen könnte, entscheidet er sich doch für den günstigeren Sekt. Als er nach Hause kommt, bietet er seiner Familie den vermeintlichen »Champagner« an. Die folgende Verköstigung umgibt eine Aura von Wichtigkeit. Dann drängt die Familie darauf zu erfahren, wie viel Andrej für die Flasche bezahlt hat. Erleichterung tritt erst ein, als Andrej zugibt, dass es sich um Sekt handelt. Anstatt sauer zu sein, weil Andrej sie angelogen hat und den Sekt für 6,50 Euro als teuren Champagner ausgegeben hat, kann seine Familie das Getränk erst jetzt wirklich genießen.
Khemiris scharfsinniges psychologisches Verständnis zeigt sich in diesem kollektiven Seufzer der Erleichterung. Das hat mit der Frage nach dem Wert zu tun, die im Zentrum von »≈ [ungefähr gleich]« steht. Der Neo-Liberalismus ordnet »ungefähr gleichen« Waren und Individuen verschiedene Werte zu, sowohl monetäre als auch Prestige-Werte. Trotzallem entsteht eine Diskrepanz und ein Unbehagen, wenn diejenigen, die entwertet wurden (weil sie arm oder Außenseiter sind), Dinge konsumieren, die außerhalb ihrer finanziellen Mittel oder ihres Standes liegen. Erst als der angenommene Wert dem vermeintlich eigenen Wert entspricht, ist das nötige Gleichgewicht erreicht und sie können endlich genießen. Die Szene mit Andrejs Sekt illustriert in der Schlussfolgerung auf bemerkenswerte Art, wie der Neo-Liberalismus Individuen als Waren behandelt, und wie sich diese Denkweise der Psyche seiner Opfer bemächtigt.
»Wenn die Zuschauer aus der Vorstellung rausgehen«, sagt Salehpour, »denken sie möglicherweise über die Bedeutung von ›Wert‹ nach. Das ist es, was mich an diesem Stück am meisten interessiert. Nicht wie wir die Banken retten können, oder Aussteiger werden. Sondern nachdenken über Wert und Wertigkeit.
Salehpour beginnt ihre Probe damit, dass sie Rubbellose an die Schauspieler_innen und Teammitglieder verteilt. Jeder bezahlt für sein eigenes Los, aber es wird diskutiert, ob mögliche Gewinne geteilt werden sollten. »Ich will nicht teilen« verkündet Salehpour fröhlich und ich bemerke, dass es ja auch nicht im Geiste eines Stückes über die grimmige Realität des Neo-Liberalismus wäre, wenn am Set eine Umverteilung des Reichtums stattfinden würde. Während einer Pause in der zackigen Leseprobe versammelt sich das Team, um zu gucken, wer von ihnen ein Gewinnerlos hat. Einer nach dem anderen rubbelt die Felder frei, und verliert. Bis eine Schauspielerin läppische 20 Euro gewinnt.
»Denk mal über diese Rubbellose nach«, sagt sie. »Im unbenutzen Zustand haben sie einen möglichen Wert von 20.000 Euro. Aber wenn sie benutzt sind, bemerkt man, dass sie eigentlich wertlos sind. Was ist Reichtum und Wertigkeit? Vielleicht überrascht es uns, dass manche gebrauchte Gegenstände einen höheren Wert und eine höhere Wertigkeit haben, als neue Dinge. Was ist der Wert von Theater? Für den einen ist es einmalig, für den anderen nur verlorene Zeit. Dieses Stück ist gut darin, solche Fragen zu verhandeln.«
Wenn man den »ungefähr gleichen« Wert von Waren und Individuen in Erwägung zieht, der in Abhängigkeit von ihrer Herkunft festgelegt wird, kommt man nicht umhin, über Fragen des Rassismus und den europäischen Arbeitsmarkt nachzudenken. Khemiri hat einen multikulturellen Hintergrund – er ist tunesisch-schwedisch. Sicherlich werden viele darauf hinweisen, dass Salehpour diese Insider/Outsider-Perspektive als Deutsch-Iranerin teilt (auch wenn sie sagt, dass sie es müde ist, die »Opfer-Rolle« zu verhandel). Die Figur Andrej ist auch ein Insider/Outsider, mit seinem slawisch-klingenden Nachnamen, der dazu führt, dass seine Bewerbungen immer wieder abgelehnt werden. Auch wenn seine Fähigkeiten denen eines anderen Bewerbers entsprechen, wird er als »aus dem Osten« abgestempelt und daher als minderwertig angesehen. Er ist der Sekt zum Champagner eines schwedischen Bewerbers.
»Ich habe bemerkt, dass einige Themen in Khemiris Arbeiten immer wiederkehren, und eins davon ist das Auftreten einer Figur, die aufgrund eines seltsamen Nachnamens benachteiligt wird – bei der Suche nach einem Partner oder einem Job zum Beispiel. Das kenne ich selbst auch: wenn ich mich für eine Wohnung bewerbe, dann hoffe ich, dass man sich nicht wegen meines Nachnamens gegen mich entscheidet. Wenn es ums Geldverdienen geht, ist das natürlich umso perfider. Es ist eine traurige Angelegenheit, wenn Menschen versuchen, auf der Ebene des Geldverdienens gleichzuziehen. Du kannst noch so talentiert sein und dich bei der Arbeit noch so sehr anstrengen, doch viel schwieriger als die Akzeptanz im Alltag wird es sein, auf der Geld-Ebene gleichgestellt zu werden«, sagt Salehpour.
Diese Fragen – wie Menschen in einem kapitalistischen System bewertet werden, wie Vorurteile, oft rassistischer Art, diese Festlegung beeinflussen – stehen meiner Meinung nach im Zentrum der momentanen Konflikte Europas. So eine heitere, geschäftige Probe – fröhliche Schauspieler, lachende Menschen – mag unpassend erscheinen für eine Abhandlung über die Zukunft der europäischen Solidarität. Aber wenn wir uns von den Nachrichten, der wachsenden Ungleichheit, den düsteren Aussichten für die immer neuen Geflüchteten erdrückt fühlen, bietet Mina Salehpour uns möglicherweise einen Ausweg. Wir können entweder lachend voranschreiten, oder uns von der Größe unserer Probleme erdrücken lassen. Wenn wir vor der Wahl stehen, welcher Weg scheint aussichtsreicher?
Aus dem Englischen von Franziska Lantermann
≈ [ungefähr gleich]
von Jonas Hassen Khemiri
Regie: Mina Salehpour
Studio
Premiere am 17. Februar 2016
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