»status quo« als Spiegel der Ungerechtigkeit (und des Patriarchats im Theater)
von Joseph Pearson
08. Januar 2019
Wenn »status quo« ein Spiegel ist, dann einer, in dem man sich selbst wiedererkennen kann.
Das Spiegelbild des Stücks zeigt die Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern. Die Rollen sind vertauscht: Männer werden im Vorstellungsgespräch gefragt, ob sie Kinder wollen; Frauen beherrschen die Alltagssprache (statt »man denkt« heißt es beispielsweise »frau denkt«); Männer bekommen Komplimente für ihr Aussehen, während Frauen befördert werden.
Im Zerrspiegel von Maja Zades Stück (Regie: Marius von Mayenburg) lädt diese Umkehrung – Frauen sind an der Macht, Männer werden unterdrückt – dazu ein, den oftmals unbemerkten Alltagssexismus infrage zu stellen.
»Dieses Stück nutzt den genialen Kunstgriff, die Geschlechter zu vertauschen, um Dinge sichtbar zu machen, an die wir uns so sehr gewöhnt haben, dass wir sie für normal halten. Auch wenn sie gar nicht normal sind, sondern vollkommen falsch«, erklärt Regisseur Marius von Mayenburg. »Es ist ein Stück, das Männer sehen sollten, weil es ihnen vielleicht eine neue Perspektive auf die Welt eröffnet, in der sie leben. Und für Frauen wirkt es möglicherweise befreiend und hoffentlich amüsant, einen Mann mit Situationen kämpfen zu sehen, die für sie Alltag sind.«
Im Zentrum des Stücks stehen die Erfahrungen dreier junger Männer, die alle Florian heißen und von Moritz Gottwald gespielt werden. Die Männer stehen am Anfang ihres Berufslebens – im Theater, in der Drogerie und im Maklerbüro – und erleben dort unterschiedliche Formen von Sexismus und Missbrauch. Die verschiedenen Arbeitswelten zeigen eine Bandbreite von Einkommensschichten. Mayenburg führt aus: »Das Stück behandelt ein Problem, das nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Schicht beschränkt ist, sondern überall eine Rolle spielt. Es hängt weder von Bildung ab, noch davon, wie viel Geld jemand verdient.«
Er ergänzt: »Dass sich diese Problematik im Stück nicht im Privaten entfaltet, gefällt mir besonders und ist auch charakteristisch für das Stück. In den meisten Stücken, selbst den politischen, spielt sich alles im häuslichen Umfeld ab, aber hier bewegen wir uns hauptsächlich in der Arbeitswelt. Es gibt einen Gegensatz zwischen dem privaten und dem öffentlichen Ich, der vor allem im Arbeitskontext zum Tragen kommt. Man will hier als jemand gesehen werden, der etwas erreichen kann, ist aber trotzdem nicht in der Lage, die Privatperson hinter sich zu lassen, die verletzlich ist und Anerkennung sucht.«
Ein Paradebeispiel dafür ist eine Szene, die ich auf der Probebühne miterlebe. Die Theaterregisseurin Bettina – gespielt von der unerschrockenen Jule Böwe – wird während einer Probe von einem Journalisten interviewt. Bettina erzählt dem Journalisten: »Theater ist ein gemeinsamer Prozess, wir sind keine Alleingängerinnen, keine Solistinnen.« Aber gleichzeitig übt die Regisseurin durch eine Reihe von subtilen, aber dennoch rücksichtslosen Gesten Macht über ihre Mitmenschen aus. Auf brillante Weise wird hier das Bild vom Regisseur als allmächtiger Kraft untergraben. Ich bitte Mayenburg, die Szene für mich auseinanderzunehmen.
»Das Stück basiert auf sehr präzisen Beobachtungen. Das ist eine außerordentliche Fähigkeit von Maja Zade, und auch ihre Kunst. Sie beobachtet nicht nur sehr genau, sie ist auch in der Lage, diese Beobachtungen sehr gut in Worte zu fassen. Sie kopiert die Wirklichkeit nicht einfach, sie verdichtet sie. Und ihre Sprache hat Poesie. Als wir diese spezielle Szene entwickelt haben, war es uns wichtig, die Macht der Regisseurin über ihre Mitarbeiter sichtbar zu machen. Es sollte einen Kontrast geben zwischen dem, was sie sagt – dass Theater ein kollektiver Akt ist – und dem, was sie tut – nämlich alle Entscheidungen alleine treffen. Wir sehen, wie sie die Szenerie beherrscht und allen Anweisungen gibt – nicht nur den Schauspielern, sondern auch der Kostümbildnerin und den anderen Beteiligten. Wir wollen Macht nicht nur kritisieren, sondern auch zeigen. Zeigen, dass Macht auch dazu befähigt, etwas zu erschaffen. Deswegen haben wir all diese Leute eingebaut, die die Regisseurin in ihrer Arbeit unterbrechen und sie mit Problemen konfrontieren. Und sie löst ein Problem nach dem anderen, während sie nebenbei noch ein Interview gibt. Es war kompliziert, diese Szene zu bauen und sie natürlich wirken zu lassen, aber ich denke, wir sind auf einem guten Weg«, sagt Mayenburg.
Ich komme nicht umhin, erneut zu bemerken, dass »status quo« ein Spiegel ist. Im Grunde genommen ahmen wir diese Szene im Stück ja gerade nach – ich interviewe den Regisseur während einer Probe. Es stellt sich die unvermeidliche Frage, ob Mayenburg als Cis-Mann beim Inszenieren eines Stücks, das die geschlechtsspezifische Macht des Theaterregisseurs aufs Korn nimmt, besonders selbstkritisch ist?
Mayenburg lacht. »Da Maja Zade, die Autorin des Stücks, selbst seit Jahren als Theaterdramaturgin arbeitet, sind viele ihrer eigenen Erfahrungen in das Stück eingeflossen. Aber bei dieser Produktion ist etwas wirklich Schönes passiert. Zu Beginn der Proben haben wir viel miteinander geredet – die Schauspieler_innen, alle anderen Beteiligten, auch die Praktikant_innen. Wir haben über unsere Erfahrungen mit Sexismus gesprochen und wie es sich als Mann oder Frau in dieser Arbeitsumgebung anfühlt. Es hat mich berührt, wie offen diese Gespräche geführt wurden und wie viel wir voneinander gelernt haben. Ich hoffe, auf meinen Proben gibt es eine gewisse Freiheit, dass die Leute nicht so unter Druck stehen und keine Hemmung haben, sich zu äußern. Das ist etwas, woran ich als Regisseur glaube.«
Mayenburg – und das habe ich schon bei vielen Proben beobachtet – ist vermutlich einer der freundlichsten und am wenigsten autoritären Regisseure der Stadt. Ich muss dennoch fragen: »Aber wie entkommt man dem Problem der Allmacht des Theaterregisseurs, wenn dessen Aufgabe eben das ist: Regie führen, leiten?«
»Das ist wie bei einem Orchester: Ohne die Musiker_innen kann der Dirigent oder die Dirigentin gar nichts tun. Aber sie auch nicht ohne ihn oder sie«, antwortet Mayenburg. »Das Problem im Theater ist, dass die ganze Macht in der Position des Regisseurs zusammenläuft. Es ist schwierig, sich eine andere Form vorzustellen. Wenn man schnelle und starke Entscheidungen braucht, dann kommt man wahrscheinlich um eine Konzentration der Entscheidungsgewalt nicht herum. Und wenn die ganze Macht bei einer Person liegt, kann diese Macht missbraucht werden. Und was noch wichtiger ist: Diese Art von Beruf zieht Menschen mit einem Hang zum Machtmissbrauch geradezu an.«
»Nicht nur im Theater … «, mutmaße ich.
»Ja klar, auch in der Wirtschaft oder der Politik«, antwortet Mayenburg. »Es geht meistens um Zeit: Je mehr Zeit man hat, eine Entscheidung zu treffen, desto mehr Menschen kann man in den Lösungsprozess miteinbeziehen. Wenn es aber um schnelle Entscheidungen geht, dann braucht es eine Konzentration der Macht und ein verlässliches System, das diese Macht kontrolliert.«
»Was du über die Kontrolle der Macht sagst, erinnert mich an die #MeToo-Debatte. Hatte #MeToo einen Einfluss auf deine Herangehensweise an den Text?«, frage ich.
»Ich denke, #MeToo beeinflusst nicht nur, wie wir dieses Stück wahrnehmen (das vor #MeToo geschrieben wurde), sondern unseren ganzen Umgang miteinander. Seit #MeToo steht jeder Konflikt um Machtmißbrauch in einem ganz anderen Kontext. Es gibt jetzt ein öffentliches Bewusstsein. Wenn man in diese Art von Konflikt gerät, ist man damit nicht mehr alleine. Man spricht nicht länger in ein Vakuum, sondern in einen Resonanzraum. Das ist eine wirkliche Veränderung: Es ist viel wahrscheinlicher geworden, dass einem jemand zuhört, wenn man sich entscheidet, zu sprechen. Früher wurde über diese Formen der Ungerechtigkeit geschwiegen, weil wir wissen, dass unsere gesamte Gesellschaft und Wirtschaft auf solchen Machtstrukturen basiert, und deshalb trauen wir uns nicht, sie infrage zu stellen. Aber es ist notwendig, sie infrage zu stellen«, erklärt Mayenburg.
»Und wenn du über einen Resonanzraum sprichst, könnte dieser Raum das Theater sein?«
Mayenburg antwortet: »Der Resonanzraum ist die Öffentlichkeit. Theater ist nur ein extrem kleiner und sehr spezieller Teil davon. Wir sind ein Spiegel. Wir spielen mit der Wirklichkeit. Wir versuchen, unsichtbare Dinge sichtbar zu machen. Wir versuchen, das Publikum dazu zu verführen, sich mit Menschen zu identifizieren, die ihnen sonst völlig fremd bleiben. #MeToo ist kein Theater. Es ist kein So-tun-als-ob, keine Show, keine Unterhaltung. Christine Blasey Ford ist keine Schauspielerin. Die Morddrohungen, die sie nach ihrer Aussage vor dem U.S.-Senat erhalten hat, sind real. Sie kann nicht einfach das Theater verlassen und jemand anderes sein. Insofern fühlt es sich nicht richtig an, #MeToo zu kapern und zu behaupten, dass das, was wir hier im Theater machen, mit dem vergleichbar wäre, was die Menschen riskieren, die sich trauen, das Schweigen zu brechen und öffentlich über Machtmissbrauch zu sprechen. Diese Menschen erschaffen den Resonanzraum, den ich meine.«
Aus dem Englischen von Franziska Lantermann.
status quo
von Maja Zade
Regie: Marius von Mayenburg
Uraufführung
Premiere war am 18. Januar 2019
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