thisisitgirl: Frauen schreiben ihre eigenen Rollen (damit Männer das auch tun können)

von Joseph Pearson

08. September 2015

Der Regisseur Patrick Wengenroth, schnurrbärtig und mit dichtem dunklen Haarschopf, sitzt mir gegenüber, einen zuckerfreien Softdrink in der Hand, und erklärt mir mit funkelnden Augen die Prämisse seines Projekts »thisisitgirl«: »Die Männer spiegeln die Frauen und die Frauen spiegeln die Männer, aber manchmal können die Männer nicht mehr weitermachen, wenn sie sich so widergespiegelt sehen. Auch wenn zur Debatte steht, ob es den Feminismus überhaupt noch gibt, oder eher zwanzig und mehr ›Feminismen‹, denke ich, dass es gerade in Bezug auf das Theater ganz zentral um den Wunsch der Frauen geht, ihre eigenen Rollen zu schreiben – anstatt nur die Rollen zu spielen, die ihnen von den Männern oder der Gesellschaft angetragen werden.«

Ich werfe einen Blick auf das Produktionsteam, das gerade aus dem Studio auf die Terrasse des Schaubühnen-Cafés strömt. Alle sehen überraschend frisch und eifrig aus, trotz der wochenlangen Proben – aber vielleicht bin ich auch verblendet durch meine Vorfreude auf die neue Spielzeit. Sie sind in eine lebhafte Diskussion verwickelt und ich frage mich, inwiefern sie Wengenroth wohl beim Wort nehmen – inwiefern die Frauen im Team tatsächlich »ihre eigenen Rollen schreiben«.

Also frage ich ihn: »Wer hat das Skript zu ›thisisitgirl‹ geschrieben?«

Wengenroth antwortet ohne zu zögern: »Wir haben nicht mit einem Skript begonnen, wir haben alles gemeinsam auf der Bühne entwickelt. Zuerst haben wir uns über die Geschichte des Feminismus und aktuelle Debatten ausgetauscht. Wir haben uns auch ganz privat unterhalten und über unsere eigenen Beziehungen nachgedacht, wie wir unsere Kinder erziehen oder welche Rolle unsere Eltern und unser eigenes Aufwachsen für unsere Entwicklung gespielt haben. In den vergangenen zwei Wochen haben wir die letzte Phase des Prozesses erreicht, in der wir diese Dilemmata mit den Mitteln der Bühne erkunden. Feminismus hat sich als ein Weg erwiesen, mit dem Frauen und auch Männer große Herausforderungen bewältigen können. Und ich denke, alles was uns herausfordert, ist gut.«

Die Produktion wurde von der »vierten Welle des Feminismus« der letzten Jahre inspiriert. Diese Feminismen unterscheiden sich von der Suffragetten-Bewegung, den theoretischen Texten der Nachkriegszeit, der 70er Jahre, der Popkultur und der Konfrontation mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen – wegen des Einflusses der Neuen Medien. Anne Wizoreks Twitter-Kampagne #Aufschrei, die Frauen dazu aufgerufen hat, auf Twitter öffentlich von eigenen Erfahrungen mit sexistischen Übergriffen zu berichten, ist nur ein Beispiel für einen grundlegenden Wandel. Man könnte auch über Silvia Plaths Selbstmord neu nachdenken und sich fragen, was geschehen wäre, wenn Plath damals Internet und damit die Möglichkeit gehabt hätte, sich aus ihrer Einsamkeit heraus mit einer Gemeinschaft von Frauen zu verbinden? Wie Wengenroth sagt: »Die Geschichte des Publizierens ist patriarchalisch. Durch das Internet können Frauen sich vernetzen und ihre eigenen Herausgeber werden. Das ist eine wichtige Sache: Ich kann meine eigene Rolle definieren.«

Die vierte Welle des Feminismus fußt auf Judith Butlers frühen Beiträgen – wo das Geschlecht (Gender) als performativ erachtet wird, als sich ständig wiederholende und daher schließlich als natürlich angenommene Handlung, nicht als Ontologie (als unverrückbarer Seinszustand) – oder der historischen Dialektik von Shulamith Firestone und ihrer utopische Hoffnung auf das Ende der Kernfamilie.
Aber die aktuelle Sprache könnte unterschiedlicher nicht sein: sie ist eine Reaktion auf den Fetischismus des theoretischen Jargons der früheren Generationen, der häufig weniger den Theoretiker*innen selbst, als vielmehr ihren Anhänger*innen geschuldet ist. Man muss nur Laurie Penny lesen, eine britische Aktivistin Mitte zwanzig, die mit köstlicher Rohheit für eine queer-feministische Revolution plädiert, um zu verstehen, was ich meine: »Ich bezeichne mich selbst als Feministin, weil es die Leute aufregt, und weil es eine gute Art ist, sich in Bars die fiesen Typen vom Hals zu halten. Aber Feminismus ist keine Identität, Feminismus ist ein Prozess. Nennt euch, wie ihr wollt. Wichtig ist, wofür ihr kämpft. Fangt jetzt an«. Das ist neuer Feminismus – und seine Fürsprecher*innen in Deutschland und der Schweiz, wie die Schweizerin Michèle Roten – vertreten ihren Standpunkt mit einem »Hieb«, nicht mit einer Unterrichtsstunde. Penny stellt eine Verbindung her zwischen der Unterwerfung der Frau und neoliberalen Kontrollmechanismen, einer Patriarchie, die ihre Macht auch auf untergeordnete Sexualitäten, Rassen und Flüchtlinge ausübt und fordert sie auf »ihren Mann zu stehen«. Der neue Feminismus erwischt sogar die verletzlichen Egos der Patriarchen, gefangen im Panzer ihrer Erwartungen.

Ich frage mich manchmal, was passieren würde, wenn man Laurie Penny und Lena Dunham, die amerikanische pop-feministische Autorin der 20-somethings der Jahrtausendwende, in einen Raum stecken würde. Die Produktionsdramaturgin Giulia Baldelli stimmt mir zu, dass daraus ein interessantes Theaterprojekt entstehen könnte (oder auch ein verbaler Schlagabtausch). Dunham ist vor allem für ihre HBO-Serie »Girls« und ihren Bestseller »Not That Kind of Girl« bekannt. Im Gegensatz zu Penny stellt sie ihre wirtschaftlich privilegierte Stellung nicht in Frage, und sie verschiebt den Fokus auf das Beichten ihrer persönlichen Erfahrungen: die Beschaffenheit ihres Uterus, ihre Essstörung, »Date Rape«, das Dior-Parfüm ihrer Mutter oder Familienurlaub in der Karibik. Und trotzdem: Dunham ist sarkastisch und schlagfertig in ihrer Selbsterforschung, schreibt in der Tradition von »das Private ist Politisch« und sie tritt Themen wie »body-shaming« (Diskriminierung aufgrund körperlicher Eigenheiten, besonders von Frauen), der einseitigen Verurteilung weiblicher Promiskuität und sexueller Belästigung entgegen.

Diese Sammlung von Texten – Butler, Firestone, Penny, Dunham und andere, wie die elektrisierende Nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie – sind nur der Ausgangspunkt. Wengenroth nimmt einen Schluck von seinem Getränk, fährt sich durchs dunkle Haar und erklärt mir: »Je mehr ich lese, je mehr ich mit den vielen Frauen rede, die an der Produktion beteiligt sind, desto weniger weiß ich. Aber das ist gut. Je mehr ich involviert bin, desto mehr ›gender trouble‹ habe ich selbst«.

Aber dennoch bin ich daran interessiert, inwiefern man nach der Lektüre all dieser Texte noch der Regisseur sein kann, derjenige, der alles kontrolliert.

»Das ist ein riesiges Problem. Ein Stück als Regisseur auf die Bühnen zu bringen ist immer ein Akt der Patriarchie. Wie kann ein Regisseur entscheiden, wie Feminismus auf die Bühne gebracht werden soll, der doch ein eher kollektives, nicht-aggressives und anti-autoritäres Phänomen ist? Aber wenn man sich dessen bewusst ist, versucht man, es durch Arbeitsteilung möglich zu machen. Einer ist ein besserer Autor, ein anderer ein besserer Dramaturg. Ich bin kein guter Techniker, aber ich habe vielleicht eine bessere Intuition für den Rhythmus eines Stücks. Wir haben von Anfang an aus den Talenten der anderen geschöpft. Besonders in Deutschland ist der Regisseur am Ende die Autorität – ›Ich will es so‹ – er muss ein Perfektionist sein. Aber ich will Chaos auf der Bühne, allerdings Chaos mit Struktur. Es wäre großartig, wenn wir ein großes Chaos erzeugen würden, und das Team die Einzelteile dann auf seine eigene Art zusammensetzen würde.«

Die Kompensationen, die für das Patriarchale am Theatermachen aufgebracht werden müssen – die Abmilderung durch ein kollaboratives Skript, die Aufmerksamkeit für eine meritokratische Arbeitsteilung, das Infragestellen der Rolle des Regisseurs – müssen dem Stück letztlich Dynamik geben. Ich bin mir meiner Metapher nicht hundertprozentig sicher, aber ich wage sie: »Theater wird eher ein Prozess, als eine Statue.«

Wengenroth sagt: »Ich sehe häufig ›perfekte‹ Inszenierungen und sie sind großartig, aber sie sind nicht das, was mich am Theater interessiert. Sie sind interessant, weil sie live produziert werden. Aber dann wird erwartet, dass sie immer wieder auf dieselbe Art reproduziert werden. In unserem Fall haben wir uns für eine kurze Probenphase entschieden. Früher habe ich erst zwei Wochen vor der Premiere mit den Proben begonnen, wie zum Beispiel bei meinem Stück ›Christiane F.‹, aber dieses Mal habe ich drei oder vier Wochen. Für mich ist es normal, auf der Bühne etwas zu zeigen, was noch nicht 100% fertig ist, weil es nie wirklich fertig ist, ohne die Anwesenheit des Publikums. Ich kann singen, tanzen, einen heftigen Dialog vortragen, aber am Ende brauche ich immer die Live-Reaktionen des Publikums, um der Sache ihre Form zu geben. Bei ›Christiane F.‹ – was zum Glück schon 75 Vorstellungen hatte – konnten wir erst nach der 10. oder 15. Vorstellung sagen: ›Jetzt ist es ok.‹«

Es muss dennoch eine ziemlich feste Struktur geben, innerhalb derer dieses Experiment, und all diese Texte, in jeder Vorstellung anders gespielt werden. Ich frage nach, was die Truppe auf der Bühne plant.

»Vielleicht waren wir ein bisschen von Lena Dunham inspiriert. Im Moment ist die Bühne einem Filmset ähnlich, es erinnert an ein Behandlungszimmer, in dem eine Schauspielerin die Therapeutin ist. Die Männer kommen zu ihr, mit ihren ›gender troubles‹ und ihren Panikattacken. Butler’s Idee des ›performativen Geschlechts‹ ist gut fürs Theater, denn vom Rollenspiel im Theater kann man dazu überleiten, wie wir auch sonst jeden Tag unsere Rolle spielen.«

Ich habe eine letzte Frage, warum Feminismus – der manchmal als schrill oder männerfeindlich angesehen wird – so einen schlechten Ruf hat, sogar unter Frauen. Ich frage Wengenroth: »Was tut deine Produktion, um diese bedauernswerte Diskussion zu ändern?«

Wengenroth antwortet: »Laurie Penny hat den Feminismus als Instrument des Angriffs auf den Neoliberalismus gewählt – du hast keinen Erfolg, wenn du allein Erfolg hast. Beim Feminismus geht es um mehr als um Frauen. Männer haben dem Feminismus viel zu verdanken: sie realisieren plötzlich, dass sie eine Rolle erfüllen sollen, die sie nicht erfüllen wollen. Es gibt Studien, die Männer fragen, ob sie nicht lieber nur 30 Stunden anstatt 50 oder 40 Stunden die Woche arbeiten wollen. Würden sie gerne, aber nicht nur das (dann fehlende) Einkommen steht dem im Weg: in Deutschland, und noch mehr in der Schweiz, gilt es als ›unmännlich‹, wenn man seine Stunden reduziert und mehr Zeit mit der Familie verbringen möchte.«

Und in der Tat, wie Laurie Penny argumentiert hat: es sind nicht nur die Männer und Frauen, die sich ändern müssen, sondern die Anforderungen an das System.

Aus dem Englischen von Franziska Lantermann

thisisitgirl

Ein Abend über Frauen und Fragen und Frauenfragen für Frauen und Männer
Realisation: Patrick Wengenroth
Studio

Premiere war am 16. September 2015