»Ungeduld des Herzens«: Ballspielen mit Simon McBurney

von Joseph Pearson

30. November 2015

Wie man Nine Square spielt

Ich möchte euch ein Spiel vorstellen, das einen Eindruck von der Produktion »Ungeduld des Herzens« vermittelt. Ja, ihr dort! Kommt auf die Bühne! Lungert nicht bloß auf der Seitenbühne rum. Die Schauspieler sind schon vollauf mit dem Spielen von »Nine Square« beschäftigt, bevor es mit der Probe losgeht. Ein großes drei mal drei Meter großes Gitter wird auf den Boden geklebt. Nun wird ein Ball in die neun Felder geworfen. Wenn dein Nebenmann vorbeiwirft, muss er das Gitter verlassen. Du selbst gehst immer ein Feld weiter, von den Ecken aus in die Mitte. Wenn du das Ziel erreichst, bist du der König!

Lass uns mal sehen, wie gut du das Spiel beherrschst. Wirf den Ball in das Feld von Schauspieler Robert Beyer. Er antwortet mit einem Wurf in Laurenz Laufbergs Feld, der ihn zu Dramaturgin Maja Zade weiter gibt. Sie lässt den Ball ganz vorsichtig in Feld 5 springen, wo Eva Meckbach ihn leider verpasst. Sie ist raus! Eva tritt aus dem Gitter heraus und reiht sich wieder in die Schlange vor Feld 1 ein, wo nun auch die Techniker eingetroffen sind. Die anderen Schauspieler – Johannes Flaschberger, Moritz Gottwald – rücken eine Position vor. Die Königin, Marie Burchard, hat die Ehre, das Spiel von neuem zu beginnen. Aber sie trifft daneben. Mit einem theatralischen Aufschrei tritt sie von ihrem Ehrenplatz zurück. Christoph Gawenda rückt mit angedeuteter Verbeugung von Feld 8 in die Mitte vor, um ihren Platz einzunehmen. Er ist nun König – aber nur für eine Minute.

Zweigs Roman

Was die Schauspieler »Nine Square« nennen, wurde von der britischen Theaterkompanie Complicite erfunden. Ihr Gründer Simon McBurney – der führende britische Regisseur im Festivalreigen – ist in Berlin, um Stefan Zweigs »Ungeduld des Herzens« zu inszenieren. Der Roman schildert eines jungen Offiziers verhängnisvolles Ringen mit seinem Ehrgefühl. Aus Mitleid ist er nicht in der Lage, seinem Werben um ein reiches, gehbehindertes Mädchen, das ihn liebt, ein Ende zu setzen.

»Es gibt diese ziemlich simple Gegenüberstellung von einem Mann, der vollkommen unfähig ist, seine Gefühle auszudrücken, der emotional unreif ist. Es passt beinahe perfekt, denn das Mädchen ist körperlich behindert, kann ihre Emotionen aber sehr gut artikulieren… Durch eine Reihe von schrecklichen Fehlern lernt er, Mitgefühl für sie zu empfinden«, erzählt McBurney.

Die Beziehung der Protagonisten wird zum Nonplusultra des zerstörerischen Helfersyndroms. Der Roman von 1939 wurde gerade von der englischsprachigen Welt wiederentdeckt, dank einer neuen Übersetzung von Anthea Bell und des Zweig-esken Wes Anderson-Films »Grand Budapest Hotel«.

Die Geschichte wird aus der Perspektive eines Erzählers dargelegt, unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Er blickt zurück zur Schwelle des vorherigen Desasters, des Ersten Weltkriegs. Im Gespräch über das verschwundene Reich Österreich-Ungarn erklärt McBurney: »Edith ist diese Welt, und sie wird zerstört. Und ich glaube wir stehen gerade am Rand einer neuerlichen Katastrophe… das ist die Grundannahme für mich.«

Nine Square und Fehlermachen

Ich habe McBurneys Arbeit (sein Stück »Mnemonic«) zum ersten Mal im Jahr 2000 in New York gesehen. McBurney hat an der l’École Jacques Lecoq in Paris gelernt und im Anschluss viele der dort erlernten Techniken weiterentwickelt. Damals hat mich beeindruckt, welche Priorität Bewegung und Raum bekamen, wie fließend der Figuren-Begriff behandelt wurde und wie oft die Schauspieler die Rollen tauschten. In einer Szene nahmen alle Schauspieler nacheinander die Rolle eines 5300 Jahre alten, auf einer Steinplatte ausgestellten Mannes aus dem Eis ein.

Complicites stark süchtig machendes Ballspiel mag uns dabei helfen, McBurneys »Ungeduld des Herzens« und dessen Beschäftigung mit Bewegung, Raum und Zusammenarbeit zu verstehen. An der Oberfläche ist es nur eine Aufwärmübung. Es trainiert Genauigkeit, bringt Geist und Körper der Schauspieler in Einklang und der kindliche Ton des Spiels erhellt die Gemüter.
Aber Nine Square ist auch ein Spiel, bei dem Fehler erlaubt sind: die Regeln sind flexibel. Wundere dich nicht, falls ein anderer »Zweite Chance!« ruft, wenn du den Ball verpasst, um dich somit vor dem Ausscheiden zu bewahren. In derselben Manier ist auch McBurney gewillt, etwas erneut zu versuchen. Er beginnt das Proben einer Szene oft mit dem Satz »Das wird vielleicht nicht funktionieren, aber kann ich sehen, was passiert, wenn…«.

In der Probe, die ich besuche, arbeitet die Gruppe gerade an einer Szene, in der Edith von Kekesfalva, die lahme Tochter des Barons, zu laufen versucht. Der junge Offizier Anton Hofmiller reagiert unerwartet. McBurney schlägt vor: »Lasst uns mal versuchen, wie es aussieht, wenn alle außer Edith laufen.« Das Experiment bringt Ergebnisse. »Jetzt lasst uns gucken, ob es in historischen Kostümen anders wirkt«, versucht es McBurney. Andere Möglichkeiten werden ausprobiert: Was passiert, wenn eine der Schauspielerinnen an einem anderen Tisch sitzt? Oder wenn ihre Stimme verzerrt wird? Oder wenn sie den Satz eines Schauspielers mitten im Satz übernimmt? »Jetzt lasst die Skripte fallen und improvisiert! Los, das ist hier kein Naturalismus, es ist wie in der Oper, holt die Emotionen hervor!« Es herrscht keine Angst vor Chaos, nicht mal davor, die Arbeit eines ganzen Tages umzuwerfen. Mich erinnert das Ganze an einen Chemiker, der verschiedene Elemente kombiniert, um die Möglichkeiten auszuloten, und der immer weitergeht, ohne Furcht vor Fehlern. Es geht immer um zweite Chancen, genau wie in Nine Square.

McBurney erklärt: »Immer wenn ich mich eines Stücks annehme, versuche ich etwas ganz Neues zu entdecken, ich versuche, das Stück selbst zu verstehen. Ich weiß nicht genau, wonach ich suche. Aber wenn ich es wüsste, dann würde das Suchen auch keinen Sinn machen. Wie ein Archäologe, der das Pharaonengrab auch nicht vergräbt, es dann ausbuddelt und sagt: Ich habe das Pharaonengrab gefunden! Stattdessen geht man los, gräbt und hofft, etwas zu finden. Manchmal findet man auch nichts.«

Die Einheit des Ensembles

Das Ballspiel ist außerdem eine nützliche Vorbereitung, um die verschiedenen Spielweisen und Persönlichkeiten im Probenraum auszubalancieren. Verschiedene Level von Durchsetzungsvermögen werden während des Spiels sofort sichtbar. Während manche unbedingt gewinnen möchten, finden andere das Ziel albern. Jeder wird mit den Testosteronleveln und verschiedenen Stimmungen im Raum vertraut, nur durch die Art und Weise, wie der Ball gespielt wird. Gleichzeitig hält niemand seinen Platz besonders lang. Jeder wird irgendwann König, genau wie in »Mnemonic« jeder mal der ausgestellte Mann aus dem Eis wurde. Das schafft eine Einheit in der Gruppe.

Am Anfang der Proben von »Ungeduld des Herzens« stehen die Rollen noch nicht fest. McBurney lässt sie die Rollen teilen: die Schauspieler probieren alle verschiedenen Charaktere aus, sie geben Textzeile hin- und her. Es besteht das Risiko, dass die Schauspieler – die natürlich daran interessiert sind, zu wissen, wer nun Anton oder Edith »sein« wird – sich in Konkurrenz begeben. Aber Nine Square gleicht die Stimmungen schon zu Beginn aus, sorgt für Verständigung; möglicherweise entschärft es sogar Rivalitäten.

Die Schauspieler haben alle eine gemeinsame Identität, definiert durch die Geschichte, die von einem älteren Hofmiller in Retrospektive auf die Fehler seiner Jugend erzählt wird. McBurney sagt: »Für mich sind alle Charaktere Teil von Hofmillers Vorstellung, durch den die Geschichte schließlich erzählt wird. Denn die Geschichte ist in seinem Kopf, die Idee dahinter ist die Frage nach dem Bewusstsein.« McBurney meint, dass es möglicherweise problematisch wird, wenn jemand traditionelle Rollen erwartet: »Es ist kein Theaterstück. Man muss sehr vorsichtig sein. Jeder steht unter der Federführung von Hofmiller.«

Eine Geschichte erzählen, auch mit Sound

Die Tatsache, dass Nine Square direkt auf der Bühne stattfindet, wo die Schauspieler nur Minuten später probieren, sorgt für einen räumlichen Zusammenhang zwischen Spiel und Bühnenbild. Die Schauspieler sitzen in einer minimalen Einrichtung an einem langen Tisch, die kaum ausgearbeiteter ist als die Gitterlinien von Nine Square auf dem Boden.

Hier nimmt das Team Veränderungen am Text vor, so dass es am Ende quasi eine Stückentwicklung wird. Die Probe ist sehr textbasiert, was im Gegensatz steht zu Complicites Reputation, sich mehr mit Bewegung als Text zu befassen oder eine Aversion gegen lineare Geschichten zu haben. McBurney behauptet, kein Deutsch zu sprechen, aber er liest das Stück auf der Bühne ziemlich gut. Trotzallem schwebt immer eine Übersetzerin wie ein Engel im Hintergrund über den Darstellern. McBurney sagt: »Ich interessiere mich für die Idee, einfach eine Geschichte zu erzählen. Ich denke das hängt sehr damit zusammen, dass ich meinen Kindern gerade Geschichten erzähle. Und ich glaube, Menschen mögen es, wenn man ihnen Geschichten erzählt. Im Theater ist es interessant, wenn die Leute sagen ›Dies passiert, und jenes passiert‹ und man dann anfängt, diese Geschehnisse irgendwie zu spielen.

Das Interesse am Geschichtenerzählen ist begleitet von der Aufmerksamkeit darauf, wie der Text klingt. Nine Square ist nicht wirklich ein Klang-Spiel. Oder habe ich mich bezeichnenderweise bisher nur nicht auf die Geräusche konzentriert, die bei Nine Square entstehen – das Schlurfen, die Ausrufe von Sieg und Enttäuschung, das Aufprallen des Balls – die für eine emotionale akustische Kulisse sorgen? Haben nicht all diese Geräusche etwas Direkteres als Worte übermittelt? Haben nicht auch sie eine Geschichte erzählt?

Man sieht auch die Ähnlichkeiten im Umgang des Regisseurs mit Bewegung und Sound. Seine Produktion »Amazon Beaming« wurde als work-in-progress beim F.I.N.D. 2015 gezeigt. Jeder im Publikum wurde mit Kopfhörern ausgestattet, die die Lokalisierung von Geräuschen (links, rechts, oben, direkt von vorne) so manipulierten, dass es schien, als fänden auf der Bühne bestimmte Bewegungen statt.

Einer der charmantesten Aspekte einer McBurney-Probe ist die Art und Weise, wie er die Schauspieler dirigiert – wie ein Maestro. Während die Schauspieler das Skript lesen, sind seine Arme in der Luft. Er signalisiert, wann sie die Sätze einer Figur an jemand anderen weitergeben sollen, wann sie improvisieren sollen. Er zeigt Rhythmus, Dynamik, Crescendos, Pausen, Schläge, sogar Tonlagen an. Dann soll ein Schauspieler einen Looper benutzen. »Füge etwas Hall hinzu«, instruiert McBurney den Sounddesigner. Wie in einem Konzert mischen sie die Worte »immer immer immer« mit Hintergrundmusik und Samples. Die Partitur hat ein gewaltiges Ausmaß. Musikalisch ausgedrückt ist das, zusammen mit dem wechselnden Material, mehr Mahler als Mozart.

Das Gefühl ausdrücken: Mitleid

Geräusche, Ton und Klang haben den Vorteil, nicht durch die Sprache limitiert zu sein, das befreit einen von einer bestimmten Bedeutung. Und das ist sehr nützlich in einem Stück, dass sich damit befasst, wie ein emotional unterentwickelter junger Mann, der seine Gefühle nicht ausdrücken kann, mit einer behinderten Frau kommunizieren kann, die sehr sprachbegabt ist.

Wie Simon McBurney erklärt: »Die Frage ist: Was ist Musik, und was macht sie? Ich denke es gibt jede Menge Hinweise darauf, dass Musik vor den Worten entstanden ist. Sie kann einige Dinge auf eine direktere Art ausdrücken, als es Worte vermögen. Sie spricht fortwährend etwas an, das uns ureigen ist. Ein Geräusch oder ein Klang kommuniziert eine Emotion unmittelbar, während ein Wort von seiner Konstruktion her versucht, diese von der Welt zu trennen. Auf dieselbe Art, ist auch eine Geschichte eine Fiktion, und nicht die Welt. Wir Menschen sind, als Konsequenz unserer Sprache, über die Natur der Dinge verwirrt – wegen der Worte, die wir nutzen. All diese Dinge sind tatsächlich Fiktionen, die erzeugt werden und uns von den wahren Themen trennen.«

»Das ist auch hier in gewisser Weise die Frage. Der Roman heißt (im Englischen) »Beware of Pity«, aber es geht eigentlich um die Artikulation dieser Emotion. Wie wird sie ausgedrückt? Nicht durch die Form, sondern durch etwas anderes.«

Aus dem Englischen von Franziska Lantermann

Ungeduld des Herzens

von Stefan Zweig
Fassung von Simon McBurney, James Yeatman, Maja Zade und dem Ensemble
Regie: Simon McBurney

Premiere war am 22. Dezember 2015

Trailer