Streit ums Politische: »Freiheit, nur eine schöne Lüge? Warum die Krise der Demokratie eine kulturelle Krise ist«

Heinz Bude im Gespräch mit Hanno Rauterberg (Journalist)

10.09.2018, 19.30

In westlichen Demokratien haben wir es heute mit einer im buchstäblichen Sinne verrückten Situation zu tun: Von rechts werden mit einer offensiven Strategie sozialer Spaltung politische Mehrheiten gewonnen, während auf der linken und postlinken Seite genau aus diesem Grunde Skepsis gegenüber Politiken der Mehrheit herrscht. Dazwischen reibt sich das Publikum der Mitte die Augen und weiß nicht mehr, wie es sich verhalten soll. Am Modellfall der Kunst kann man sich klar machen, was gerade passiert. Eine Kunst, die unbeschränkte Freiheit für sich in Anspruch nimmt, um ohne Rücksicht auf Verluste austesten zu können, wie man leben kann, ist in Verruf geraten. Man traut dem Exemplarischen, dem Uneigentlichen und dem Experimentellen nicht mehr: Ausstellungen und Theaterstücke werden abgesagt, ein Wandgedicht muss verschwinden, ein Gemälde soll zerstört werden. Man will lieber seine eigene Wahrheit sagen und sich nicht mehr durch künstlerische Verfremdungen, Zuspitzungen und Relativierungen zur Disposition stellen. Das fragile, ungesicherte und ausgreifende Spiel der Kunst vermochte früher, solange Wandel noch Befreiung hieß, emanzipatorische Fantasien für ein anderes Leben freizusetzen. Aber seitdem Freiheit von vielen als Freisetzung, als Zwang zur Selbstoptimierung wahrgenommen wird, gilt die Freiheit der Kunst als Lüge. Man glaubt an nichts anderes mehr als an die eigene Wahrheit und will nicht mehr zwischen Fiktionen und Fakten unterscheiden. Deshalb gibt es politisch nichts mehr zu entscheiden.

Hanno Rauterberg, geboren 1967, ist promovierter Kunsthistoriker und schreibt als Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT regelmäßig über Kunst und Architektur. Seine oft thesenstarken Betrachtungen haben gleich mehrere wichtige Preise gewonnen. Zuletzt erschienen: »Wie frei ist die Kunst? – Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus« (2018), »Die Kunst und das gute Leben – Über die Ethik der Ästhetik« (2015) und »Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne« (2013).

In Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung

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