Streitraum: »Von Körpern und Codes – Identität in der Hypermoderne«
Carolin Emcke im Gespräch mit Alan N. Shapiro (Science-Fiction und
Medientheoretiker, Autor, Professor, Softwareentwickler)
Simultanübersetzung: Lilian-Astrid Geese, Silvia Schreiber.
In Shakespeares »Hamlet« gibt Polonius seinem Sohn Laertes den Rat: »Das über allem: sei treu deinem Selbst und folgen muss, so wie die Nacht dem Tag: Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.« Lionel Trilling nannte diese Aufrichtigkeit die Erfüllung des Selbst durch Ehrlichkeit gegenüber anderen. Die großen Erzählungen der Moderne – Fortschritt, Industrie oder Social Engineering – überschatten das entfremdete Ich und lösen aus, was Trilling als Suche nach Authentizität bezeichnet: Das moderne Individuum sucht gegenüber der Gesellschaft nach Erfüllung.
In der Postmoderne wird das Soziale durch Muster und Codes simuliert und der Körper wird zum Ort des ständigen Medienkonsums.
Mit der Digitalisierung tritt das moderne Individuum in die Ära der »Hypermoderne«: Entwicklungen wie personalisierte Werbung oder »Smart Homes« bestätigen das narzisstische Ich. So entwickelt sich der Mensch zur »Software-Zustandsmaschine«, auf der die Algorithmen arbeiten.
Was geschieht mit unserer Identität, unserem Selbst, unserem Körper, wenn wir von einem intelligenten Alter Ego im Netz vertreten werden? Ist ein Dialog zwischen uns und unserer körperlosen digitalen Kopie in einer utopischen Zukunft vorstellbar?
Der interdisziplinäre Denker Alan N. Shapiro bringt in seiner Forschung und Lehre Philosophie, Medien, Informatik und Design zusammen und zeigt auf, wie sich aus der Science-Fiction Impulse für die Wissenschaft und zukünftige Technologien ableiten lassen.
ALAN N. SHAPIRO (*1956, New York) ist Softwareentwickler, Science-Fiction- und Medientheoretiker. Seine Schwerpunkte liegen auf den Themen Posthumanismus, Creative Coding, Technologische Kunst, Kultursoziologie, Softwaretheorie, Robotik, KI sowie Futuristisches und Transdisziplinäres Design. Als Gründungsmitglied des Instituts für Sozialchoreografie in Frankfurt entwickelte er viele der Kernideen dieses neuen Forschungsfeldes mit. Seit 2017 ist Shapiro Dozent an der Hochschule für Künste Bremen und lehrt Design & Informatik an der University of Applied Sciences and Arts, Luzern. Zuvor lehrte er als Gastprofessor an der Folkwang Universität der Künste in Essen und an der Nuova Accademia di Belle Arti in Mailand und gab Seminare an diversen Hochschulen, so u. a. in Frankfurt a. M., Karlsruhe und Offenbach. Seine Auftritte als Keynotespeaker führten ihn zu zahlreichen internationalen Festivals und Konferenzen u. a. nach London, Paris, Amsterdam, Wien, Turin und Zürich. Sein Buch »Star Trek: Technologies of Disappearance« (Avinus Verlag, 2004) verknüpft die Konzepte des Philosophen Jean Baudrillard mit Science-Fiction-Forschung und einer futuristischen Technowissenschaft und trug zu einer Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung zur Bedeutung von Star Trek für die Gegenwartskultur bei. Inzwischen veröffentlichte er über 250 Artikel, sowohl auf seiner eigenen Website als auch in Zeitschriften, so z. B. im International Journal of Baudrillard Studies. Er publiziert zudem Beiträge in Sammelbänden, so kürzlich u. a. in »Design und Mobilität: Wie werden wir bewegt sein?« (Fruehwerk Verlag, 2019) und »Nevertheless: Manifestos and Digital Culture« (Textem Verlag, 2018).
Streitraum 2019/20: »Brave New Bodies, Brave New Humanity?«
Wie verändern sich das Denken und auch das Erleben des Körpers und verschiedener Körperlichkeiten im 21. Jahrhundert – und welche Folgen hat das für unsere Vorstellung des Selbst? Wie wir unsere Körper wahrnehmen, wie der Umgang mit dem eigenen Körper erlernt und weitervererbt wird, ist immer schon ein Konfliktfeld kultureller, religiöser, sozialer Praktiken und Überzeugungen gewesen. Wie Körper verhüllt, entblößt, ausgestellt, gepflegt, behandelt werden, mit welchen Bildern Körper in Kategorien von männlich oder weiblich, schön oder hässlich, gesund oder krank, sichtbar oder unsichtbar gemacht werden, ist immer schon normativ und kommerziell ausgeprägt.
Der Streitraum 2019/20 will sich die Frage stellen, wie die medizinisch-technischen Entwicklungen der Prothetik, wie Künstliche Intelligenz und Robotik, aber auch die grundsätzliche Durchdringung und Nutzung digitaler Technologien in allen unseren Lebensbereichen unsere Körper(-Bilder) und unser Selbstverständnis verändern. Was bedeutet Humanismus, was bedeutet ein soziales Wir unter diesen Bedingungen? Welche ökonomischen, kommerziellen Interessen steuern und programmieren die Algorithmen, die über unsere Fitness, unsere Ernährung, unsere Gesundheit mehr und mehr entscheiden? Wie verändert sich unser Selbstbild, aber auch unser Begriff von Begehren, von Sexualität und vom Sterben durch neue Technologien?