Festival Internationale Neue Dramatik 2019
Vom 4. bis 14. April
Beim 19. Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) stellten wir elf Tage lang neue Inszenierungen international renommierter Theatermacher_ innen und Neuentdeckungen – unter anderem aus Brüssel, Santiago de Chile, New York, London, Barcelona und Montréal – zum ersten Mal in Berlin vor. Die Aufführungen erforschten die politischen und gesellschaftlichen Umstände der gegenwärtigen Welt: strukturelle und institutionalisierte Gewalt, dysfunktionale Justiz-, Sozial- und Gesundheitssysteme und die Erosion des öffentlichen Gemeinwesens durch den Neoliberalismus; Flucht, Migration und Klimawandel; patriarchale Unterdrückung und deren Brechung und Infragestellung durch Feminismus und Genderdebatten. So unternahm die Ausgabe des FIND 2019 den Versuch, mit den Mitteln des Theaters eine Art »Archäologie der Gegenwart« zu skizzieren, bei der Struktur und Herkunft unseres Heute durch ein Schürfen in der zeitgenössischen Geschichte zu Tage gebracht werden.
Programm
Eröffnet wurde das Festival mit der Projektentwicklung Danke Deutschland – Cảm ơn nước Đức von Sanja Mitrović, in der die erstmals an der Schaubühne inszenierende serbische Regisseurin und Autorin mit einem Ensemble aus Schauspieler_innen des Hauses und deutschvietnamesischen Darsteller_innen einen Blick auf das wiedervereinigte Deutschland wirft, sowie mit ARCTIQUE von Anne-Cécile Vandalem (Brüssel).
ARCTIQUE spielt im Jahre 2025 auf einem ehemaligen Kreuzfahrtschiff, welches aus Kopenhagen bis nach Nuuk (Grönland) geschleppt werden soll und einige heimliche Mitreisende an Bord beherbergt, die alle durch einen mysteriösen Einladungsbrief angelockt wurden. Grönland ist mittlerweile von Dänemark unabhängig, Europa von Bürgerkriegen zerrüttet, und alle Eingeladenen sind in die fatale Unabhängigkeit Grönlands von Dänemark und eine Katastrophe, die sich zehn Jahre zuvor auf dem Schiff ereignet hat, verstrickt. Als das Schleppboot plötzlich verschwindet und das Schiff ziellos im Eismeer treibt, nimmt ein politischer Kriminalthriller seinen Lauf.
THE TOWN HALL AFFAIR, eine der jüngsten Arbeiten des amerikanischen Künstler_innenkollektivs The Wooster Group (New York), unternimmt den Versuch einer szenischen Wiederaufführung des inzwischen über 40-jährigen Dokumentarfilms »Town Bloody Hall«. Auf der Bühne wird die Projektion des Films durch ein simultanes Reenactment überschrieben. Bei der Überblendung der Gegenwart mit der Vergangenheit tritt zutage, dass die dominierenden Diskussionen der Linken und der emanzipatorischen Bewegungen, die uns heute nachdrücklich beschäftigen, in all ihren Widersprüchen schon zu Anfang der 1970er Jahre angelegt waren.
Der katalanische Dokumentartheatermacher Didier Ruiz (Barcelona) gibt in seinen Stücken oft den Menschen eine Stimme, die selten auf Bühnen zu sehen sind und nähert sich der Gesellschaft über ihren Blick auf die Welt an. Für TRANS (Més Enllà) arbeitete er in und um Barcelona, zusammen mit Clara, Sandra, Leyre, Raúl, Ian, Dany und Neus. Sie alle stehen als sie selbst auf der Bühne: Menschen, die anders fühlen und das ihnen zugeschriebene Geschlecht, den eigenen Körper, lange wie ein Gefängnis wahrgenommen haben, bis sie sich entschieden, auszubrechen. Sie erzählen von Gewalterfahrungen auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Familie, von Sehnsüchten, Träumen, Hoffnungen, von einer Gesellschaft, die sich mehr um Grenzen kümmert als um Liebe, und von dem langen Weg zu sich selbst.
In Paisajes para no colorear, inszeniert von Marco Layera (Santiago de Chile), treten neun chilenische Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren auf die Bühne und berichten von ihrer Weise, der Welt zu begegnen: von der Stigmatisierung und Gewalt, derer sie Zeuginnen und Opfer geworden sind, und von ihrer Auflehnung dagegen. Auf Basis ihrer eigenen Geschichten und derer von 140 weiteren jugendlichen Chileninnen, die von der Gruppe Teatro La-Resentida dokumentiert wurden, haben sie einen Text erarbeitet, der anklagend gegen überkommene Geschlechter- und Rollenbilder ist und zugleich hoffnungsvoll darin, wie er eine zukünftige empathische und solidarische Gesellschaft formuliert.
Mit Popular Mechanics zeigt die Schaubühne – nach mehreren China-Tourneen mit Stücken aus dem eigenen Repertoire – zum ersten Mal eine chinesische Produktion beim FIND, entwickelt von Regisseur Li Jianjun und seiner New Youth Group (Peking), einer der wenigen Gruppen des Landes, die Formen des Dokumentartheaters entwickeln. Damit bringt die Inszenierung die Wirklichkeit des heutigen Chinas mittels eines Querschnitts von in Peking lebenden Menschen, von denen keine_r beruflich im Theater arbeitet, auf die Bühne. Es entsteht ein Panorama, in dem das Theater und das Spiel mit fiktiven Rollen und legendären Figuren der Literatur- und Filmgeschichte sich über den Alltagskosmos legen.
Trap Street von Kandinsky (London) erforscht die Ruine eines 1960er Jahre Plattenbaus in London und die Umstände, die diesen Ort zur Ruine gemacht haben. Das Graben in seiner Geschichte bringt neben einem individuellen Familiendrama auch Zeugnisse eines gesellschaftlichen Prozesses ans Licht: die Utopien, den Verfall und die neoliberale Entkernung des britischen Sozialsystems.
A Generous Lover erzählt die Geschichte von La JohnJosephs (London) Reise in die Unterwelt, in eine geschlossene Psychiatrieabteilung in einem von den Tories heruntergewirtschafteten Krankenhaus, zu dem eigenen Geliebten, der an einer bipolaren Störung leidet. La JohnJoseph versucht, auf dieser Odyssee verschiedenste Schwierigkeiten zu umschiffen: Wie geht man damit um, wenn man genderqueer ist und vom Personal der Klinik selbst als Patient_in gesehen wird? Wie kann man Partner_innen, die an einer schweren psychischen Erkrankung leiden, dabei helfen, zurück in eine Welt außerhalb der Psychiatrie zu finden?
Die frankokanadische Schauspielerin, Regisseurin und Autorin Dominique Leclerc (Montréal) wirft mit Post Humains einen Blick in eine Zukunft, die schon längst Gegenwart geworden ist: Auf Menschen, die ihre Körper mittels Technologie verlängern, erweitern und verbessern. Ausgehend von einer eigenen Erkrankung macht sich Leclerc auf die Suche nach Hilfe und taucht langsam immer tiefer in die Welt der Cyborgs und die transhumanistische Bewegung ein. Sie begibt sich auf eine Entdeckungsreise in ein ebenso faszinierendes wie bizarres Universum voller Implantat-Partys, Biohacker und Bodyphilosoph_innen.
Was die – im mexikanischen Volksmund so genannte – »Mauer der Schande« zwischen den USA und Mexiko für das Leben der realen Menschen bedeutet, die den Grenzwall auf der Suche nach einem neuen Leben zu überwinden suchen, erforscht das Kollektiv Teatro Línea de Sombra (Mexiko-Stadt) mit seinem Stück Amarillo. Auf den Zeugnissen hunderter Geflüchteter und ihrer Angehörigen aufbauend, werden ihre Geschichten auf der Bühne zu einer theatralen Handlung mit wenigen Figuren kondensiert. Gemeinsam skizzieren sie ein paradigmatisches Panorama einer humanitären Katastrophe, die hinter den Ereignissen aus den Schlagzeilen und politischen Polemiken stehen. Dabei erhält diese Inszenierung – die im Gegensatz zu den anderen, erst jüngst uraufgeführten Produktionen des diesjährigen FIND schon seit sieben Jahren weltweit tourt und nun als eine Art »Special« erstmals vor einem Berliner Publikum gezeigt wird – vor dem Hintergrund der in den letzten Monaten neu aufflammenden Diskussionen um den hermetischen Ausbau des Grenzwalles eine zugespitzte Schärfe und ist heute fast aktueller als zum Zeitpunkt der Premiere.
Rund ums Programm gab es außerdem Publikumsgespräche mit den Künstler_innen, ein Podiumsgespräch mit Jan Assmann zur Archäologie der Gegenwart, einen Streitraum mit Carolin Emcke und Aleida Assmann, Enis Maci und weiteren Gästen zum Thema »Welches Europa?«, eine Party mit Drag-DJ Gloria Viagra, einen Poetry Slam mit den Performer_innen von Young Identity und ein Konzert von Carol Schuler & The Maenads.
FIND plus
Zu den internationalen Besucher_innen gehörten insbesondere die etwa 80 Studierenden des Workshop-Programms FIND plus aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Israel, den USA und dem Gastland Ägypten. In Masterclasses, Workshops und Diskussionsveranstaltungen mit den Künstler_innen des Festivals sowie Vorstellungsbesuchen entstand ein Dialog zwischen Theaterschaffenden von heute und morgen.
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