Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © KnAM Theater 
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © KnAM Theater 
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © KnAM Theater 
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © Julie Cherki 
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © Julie Cherki 
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © Julie Cherki 
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © Julie Cherki 
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © Julie Cherki 
Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica), Foto: © Julie Cherki 
 

Eisige Mythen im Osten Russlands
»My Little Antarctica« von den Exilant_innen des KnAM Theaters an der Schaubühne

von Joseph Pearson

24. April 2024

Was wissen Sie über den fernen Osten Russlands? Vielleicht sind Sie eine_r jenen unerschrockenen Reisenden, die mit der transsibirischen Eisenbahn in diese fernen Weiten vorgedrungen sind. Oder Sie sind gehören zu den Wenigen, die den spiegelglatten Nordpazifik mit der Fähre von Japan nach Wladiwostok überquert haben. Vielleicht haben Sie auch eine weniger beschwerliche Reise unternommen, im heimischen Sessel bei der Lektüre von Anton Tschechows Erzählung über die Strafkolonie Sachalin im Jahr 1890 – ein Ort, der, wie Tschechow es empfand, die Grenzen der Menschlichkeit austestete. Aber für die meisten Menschen in Westeuropa liegen diese Orte am Ende der Welt und sind für Mythenbildungen anfällig.

Wie Tatiana Frolovas KnAM Theater verdeutlicht, erzählen Gemeinschaften in dieser eisigen Landschaft auch Mythen über sich selbst, wie zum Beispiel in Komsomolsk am Amur in Russlands tiefer östlicher Taiga. Wie der Name der Stadt suggeriert, wurden die stalinistischen Bauten von Freiwilligen der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol errichtet. Die Rolle, welche Zwangsarbeiter_innen aus den Gulags dabei spielten, stellt jedoch einen unbequemen Teil der sowjetischen Geschichte dar. Frovolas Stück »Моя маленькая Антарктида« (»My Little Antarctica«) macht uns mit einer Theaterkompanie bekannt, die aus diesem für seine Gefangenen und Exilant_innen bekannten Teil Russlands geflohen ist um selbst ins politische Exil zu gehen. Seit dem Krieg in der Ukraine sind diese lautstarken Kritiker_innen in Lyon in Frankreich zuhause.

Das Festival #FIND2024 an der Schaubühne hat seinen Mittelpunkt erreicht und ich treffe mich mit Tatiana Frolova, um mich mit ihr über ihr Stück zu unterhalten, das diese Woche seine Premiere feiern wird.

Joseph: Was hat Sie dazu bewogen, über Komsomolsk am Amur zu schreiben?

Tatiana: Ich bin dort geboren. Das ganze Team und ihre Familien sind auch dort geboren – Generationen von den 1960ern bis zu den 1990er. Wir haben unser Theater dort 1985 gegründet, in der UdSSR. Das war die Zeit Gorbatschows – es gab eine Welle von Veränderungen im Zuge der Perestroika, und wir sind dieser Welle gefolgt. Und in fast jedem unserer Stücke reden wir über diesen Ort. Die Menschen, die dort leben, wissen nichts darüber, wo sie herkommen, über die Geschichte der Gulags, es ist also umso wichtiger, dass wir diese Geschichte erzählen.

Joseph: Welche Bedeutung hat die Kälte in Ihrer Inszenierung? Und warum haben Sie Ihr Stück nach der Antarktis benannt?

Tatiana: Acht Monate im Jahr ist es dort kalt. Und jeder Aspekt des Lebens ist dort kalt! Sogar der Weg von zuhause ins Theater ist schmerzhaft – es kann schon mal -45 Grad Celsius kalt werden. Die Kälte stand im Mittelpunkt unseres Lebens dort: das gefrorene Herz. Das bedeutet, dass es keine Emotionen gibt: Die Menschen schalten ihre Gefühle ab um zu überleben.

Joseph: Bei der Kälte geht es also nicht nur ums Wetter –

Tatiana: Nein, und wir mussten sie auch überleben. Dass das Leben so äußerst schwierig war ist auch etwas, das ich schon in früheren Stücken behandelt habe, wie zum Beispiel die Geschichte meiner Großmutter, die mit Hunger zu kämpfen hatte. Es gab so wenig zu essen, dass fünf von ihren elf Kindern starben; sie konnte in dieser schrecklichen Situation so nicht überleben, also schaltete sie ihre Gefühle ab. Nur auf diese Weise konnte sie nicht nur die körperliche Kälte überleben, sondern auch die schlimme gesellschaftliche Situation. Als sie ihre Kinder verlor, erlaubte sie sich nicht zu weinen, weil sie weiterleben musste – sie musste überleben.

Joseph: Die Stadt wurde mithilfe von Zwangsarbeiter_innen aus dem Gulag gebaut. Erzählen Sie mir von dieser Geschichte.

Tatiana: Die Obrigkeit hat einen Mythos erschaffen: dass der Komsomol kam und die Stadt erbaute; tatsächlich kam aber der größte Teil der Arbeitskräfte aus dem Gulag. Es stimmte, dass der Komsomol dorthin kam, aber das waren nur etwa einhundert Leute, und im ersten Jahr starben sie alle, an Hunger und Kälte. Sie hatten schreckliche Arbeitsbedingungen. Sie hatten keine Werkzeuge, und in unserem Stück zeigen wir, wie die Haare der Arbeiter_innen an ihren Feldbetten festfroren. Im Grunde genommen wohnten sie draußen – in notdürftigen Unterkünften die eher Zelten glichen. Diese Bedingungen sind vielfach fotografisch belegt, aber nur wenige Menschen wollen sich mit diesen historischen Tatsachen auseinandersetzen und stattdessen hat ein wunderschönes Märchen die Realität verdrängt. In unserer Stadt gab es mehr als vierzig Gulag-Feldlager, die politische Gefangene als Zwangsarbeiter_innen zur Verfügung stellten.

Joseph: Änderte sich die Legende mit dem Ende der Sowjetunion 1991?

Tatiana: Es gab einen kurzen Zeitraum, in dem Informationen über die Vergangenheit in den Archiven und Museen zugänglich waren, aber dann wurden sie wieder unzugänglich gemacht. Und weil sich niemand an die Fakten erinnerte, blieb der alte Mythos erhalten.

Joseph: Was für ein Interesse hat Russland daran, diese Legende bis heute am Leben zu erhalten?

Tatiana: Die Politik Putins macht es erforderlich, dass die Menschen nicht wissen, was passiert ist: weil diese Politiker_innengeneration von der daran beteiligten Großelterngeneration abstammt. Es gibt so etwas wie eine Ahnenreihe der Gewalt. Aus den sowjetischen Geheimdiensten wurden die russischen, die wir heute kennen. Seit 2001 werden immer mehr Informationen geheim gehalten. Viele Menschen sind verhaftet worden, weil sie versucht haben, Zugang zu den Aufzeichnungen zu bekommen. Yuri Dmitriyev ist zum Beispiel jemand, der diese Sachverhalte recherchieren wollte und inhaftiert wurde, zusammen mit anderen. Und auch unser gesamtes Theater-Team wurde bespitzelt und bedroht.

Joseph: Zu welchem Zeitpunkt haben Sie sich dazu entschlossen, Russland zu verlassen?

Tatiana: Als 2022 der Krieg in der Ukraine begann, stand für mich fest, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Ich hatte die Hoffnung gehabt, dass die Menschen Freiheit wollten, aber das glatte Gegenteil war der Fall. Russische Landsleute wollten den Krieg: Ich habe viele Freunde verloren, weil ich gegen den Krieg war.

Joseph: War es schwierig, das Land zu verlassen und nach Frankreich zu gehen?

Tatiana: Unsere Theaterkompanie hat das in zwei Schritten getan. Zuerst machten vier von uns den Anfang. Dann folgten die übrigen drei. Wir mussten uns noch um viele organisatorische Details in Russland kümmern, und diese drei waren sich nicht sicher, ob sich die Situation verschlechtern oder verbessern würde. Weil unsere Stadt so klein ist, erfuhren diese drei über ihre Kontakte, dass sie als nächstes verhaftet werden sollten. Weil die Gefahr bestand, dass sie ins Gefängnis kommen könnten, und weil sie nicht mit der Vorstellung leben konnten, in Komsomolsk kein Theater mehr machen zu können, fanden auch sie einen Weg, das Land zu verlassen. Zuerst hatten wir vor, in die Mongolei zu gehen, weil das von Ostrussland aus am einfachsten gewesen wäre, aber die Covid-Pandemie verkomplizierte das alles und die Grenze wurde geschlossen. Also sind wir stattdessen nach Kirgisistan gegangen, wo wir dann Einladungen und Unterstützungsangebote von zwei Theatern aus Frankreich und einem aus der Schweiz bekamen – und vom Festival »Sens Interdits«, das unsere Arbeit schon seit 1999 kennt.

Joseph: Wie ist das, für ein neues Publikum Theater zu machen, jetzt, wo ihr in Frankreich lebt? Für Menschen Theater zu machen, die Ostrussland kennen, ist etwas anderes, als für Menschen, die sich mit dieser Region weniger auseinandergesetzt haben –

Tatiana: Viele Menschen finden Gemeinsamkeiten zwischen unserer Situation und ihrer eigenen Geschichte. Deutsche sagen häufig, nachdem sie unsere Inszenierungen gesehen haben, dass sie eine Parallele zur deutschen Geschichte erkennen. Und es gibt auch einen Zusammenhang mit dem, was heute passiert. Lenin und die UdSSR wollten die ganze Welt erobern. Die gleiche Vorstellung findet ihre Kontinuität mit Putin und seinen Eroberungen – mit seiner Idee eines Großrusslands.

Joseph: Wie viel Angst sollten wir hier im Westen vor Putin habe?

Tatiana: Wir sollten keine Angst habe, aber wir sollten wach sein.

Mit Übersetzungen aus dem Russischen von Maksim Chernykh

Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica)

von Tatiana Frolova/KnAM Theater
Regie: Tatiana Frolova

Premiere war am 20. März 2020

Trailer