Festival Internationale Neue Dramatik 2020
Vom 11. bis 22. März 2020
Beim 20. Festival Internationale Neue Dramatik haben Sie die Gelegenheit herausragende neue Arbeiten des Autor_innentheaters – in diesem Jahr aus acht Ländern und drei Kontinenten – zum ersten Mal in Berlin zu erleben. Unter dem assoziativen Schwerpunkt »Gegenbild und Gegenmacht« versuchen die eingeladenen Inszenierungen, herrschende Strukturen zu hinterfragen und aus der Position der Marginalität heraus zu unterwandern. So spüren sie die blinden Flecke der Gesellschaft auf und geben den Bildern und Erzählungen Raum, die im gesellschaftlichen Diskurs verdrängt und ausgelöscht werden. Zugleich reflektieren sie über eine Positionsbestimmung der eigenen Kunstform: Das Theater als Ort der Auseinandersetzung mit Bildern und Gegenbildern, mit Macht und Gegenmacht.
Das Festival musste aufgrund der Corona-Pandemie angesagt werden.
Programm
In »Outside«, der neuesten Inszenierung von Kirill Serebrennikov (Moskau), dem es trotz jahrelangem Hausarrest in Russland gelang, weiter Regie zu führen, spiegeln sich eigene Erfahrungen der Repression in der Figur des verstorbenen chinesischen Fotografen Ren Hang. Dessen Werke porträtieren eine neue chinesische Generation in ihrem rebellischen Lebenswillen und einer unangepassten Schönheit, die im scharfen Kontrast zum staatlich verordneten Bild von der Jugend steht.
In der ersten Inszenierung aus Thailand, die beim FIND zu sehen ist, entwerfen Uthis Haemamool (Autor, Bangkok), Toshiki Okada (Regie,Tokio) und Yuya Tsukahara (Bühne und Choreographie, Osaka) in »Pratthana — A Portrait of Possession«, auf dem Weg der Erlebnisse eines jungen Künstlers aus der Provinz von 1992 bis heute ein breit angelegtes Panorama der künstlerischen Gegenkultur von Bangkok, die sich in ihren Sex und Drogenexzessen gegen jedes Establishment stellt. Chronik eines radikalen Exodus aus allen Institutionen in einen scheinbar freien Gegenkosmos, der sich angesichts einer stetig repressiver werdenden Politik und Gesellschaft dennoch als Ort der fatalen Isolation erweist.
Die spanische Autorin, Regisseurin und Performerin Angélica Liddell (Madrid) begibt sich mit »The Scarlet Letter« in den Kosmos einer kunstfeindlichen Dystopie, die sich aus disparaten Elementen wie dem puritanischen 19. Jahrhundert in Amerika – Schauplatz des gleichnamigen Romans von Nathaniel Hawthorne – oder der Diktatur aus Bradburys »Fahrenheit 451« zusammensetzt: Sinnbild einer Gegenwart, in der Kunst und Philosophie ähnlich stigmatisiert werden wie im Puritanismus der Ehebruch. Und doch besitzen die Gebrandmarkten mit dem scharlachroten Buchstaben »A« – einst für »Adulteress«, heute für »Artist« – das Potenzial zum Bruch mit der totalitären Struktur.
In seiner neuesten Arbeit »Familie« hinterfragt Milo Rau (Gent) das Konstrukt der Familie und die auf ihm aufbauenden Wunsch und Klischeebilder. Ausgehend von einem realen Fall – bei dem sich ein Elternpaar aus Calais und ihre beiden Kinder erhängten – konfrontiert uns Rau mit der Ratlosigkeit, die eine scheinbar unerklärliche Tat hinterlässt. Gemeinsam mit einer realen Familie, den Schauspieler_innen An Miller und Filip Peeters und ihren Töchtern, imaginiert er sich deren letzten Abend und forscht nach den zugrundeliegenden Ursachen und Traumata.
Mit »salt.« unternimmt die Autorin, Regisseurin und Performerin Selina Thompson (Birmingham) den Versuch, eine die offizielle Geschichtsschreibung widerlegende Gegengeschichte der Black British Identity zu schreiben, indem sie selbst als mitreisende Passagierin an Bord eines Containerschiffs die Routen der Sklavenschiffe nachfährt, die ihre Vorfahren aus Ghana nach Jamaika deportierten. Rassismus und patriarchale Machtverhältnisse innerhalb der Schiffsbesatzung machen sie zur Zeugin eines ungebrochen hegemonialen Apparats.
Aus dem Setting einer szenischen Lesung heraus entwickelt der junge kanadisch-amerikanische Autor, Performer und Musiker Christopher Brett Bailey (Ontario/New York/London) in »THIS IS HOW WE DIE« eine von ihm selbst im Stil einer Beat-Poetry-Performance dargebotene, rasant-psychedelische Hommage an die Rebellion der Beatniks, die sich stets auf einem schmalen Grat zwischen halluzinogenem Surrealismus, bitterböser soziologischer Satire und persönlichem Bekenntnis bewegte.
In »Meine kleine Antarktis« begibt sich das KnAM Theater (Komsomolsk am Amur) im äußersten Osten Russlands, mitten in der russischen Taiga, auf historische Spurensuche und entwirft aus dem geschichtlichen Widerspruch einer Stadt heraus das Porträt einer zutiefst verunsicherten, von Verdrängung und Spannungen zerrissenen postsowjetischen Gesellschaft.
In »Triple Threat« erzählt die Performerin Lucy McCormick (London) mit viel Popmusik und ausgeklügelten Choreografien das Neue Testament nach – mit sich selbst in allen Hauptrollen und zwei Backgroundtänzern als Unterstützung. So eignet sie sich schamlos eines der wohl heteronormativsten Narrative der westlichen Welt an und wandelt es um in eine gänzlich neue, queerfeministische Heilsgeschichte.
Nach »SAIGON« vor zwei Jahren kehrt Caroline Guiela Nguyen (Valence) mit »Mon grand amour« zum FIND zurück. Aufgeführt in einer privaten Berliner Wohnung wird das Theater dabei zum scheinbar hyperrealistischen Abbild der Wirklichkeit, der Geschichten von drei Menschen am Wendepunkt – es subvertiert und konterkariert sie dennoch zugleich.
Teil des Festivals sind zudem die Uraufführung von »Die Affen« von Marius von Mayenburg (Berlin) und »Qui a tué mon père« von und mit Édouard Louis (Paris), das Thomas Ostermeier (Berlin) in einem try-out gemeinsam mit dem Autor auf die Bühne bringt. In diesem Experiment wird Édouard Louis erstmals als Performer eines seiner Texte auf der Bühne stehen. Der Abend ist eine Koproduktion mit dem Théâtre de la Ville Paris. Aus dem neuesten Repertoire der Schaubühne ist zudem das von der Autorin Anne-Cécile Vandalem (Brüssel) selbst inszenierte Stück »Die Anderen« zu sehen.
Diskursiv begleitet wird das Festival durch thematische Gesprächsrunden, unter anderem mit der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe (London), die sich wie kaum eine andere Denkerin der Gegenwart mit den Konzepten von Gegenhegemonie und Gegenmacht auseinandergesetzt hat und dabei auch ihre Umsetzung in der künstlerischen Praxis reflektiert – im Gespräch mit Katja Kipping (Berlin) und weiteren Gästen. In einem weiteren Panel denkt die Philosophin Eva von Redecker (Berlin) über Philosophien der neuen sozial-ökologischen Protestbewegung nach und plädiert für einen neuen Begriff der Revolution.
Rund ums Programm wird es außerdem Publikumsgespräche mit den Künstler_innen geben, ein Konzert der Band Pollyester (München) und zwei Partys.
FIND plus
Das Nachwuchs-Format »FIND plus« findet 2020 zum zehnten Mal statt. In einem zehntägigen Programm soll ein intensiver Dialog ermöglicht werden: zwischen Theaterschaffenden von heute und morgen, zwischen Schauspiel- und Regiestudierenden aus Ägypten, Belgien, Deutschland, Frankreich, Israel, Russland und den USA. Die rund 80 Studierenden von Schulen aus Paris, Strasbourg, Liége, München, Hamburg, Wien, Berlin, Moskau, Kairo, Tel Aviv und New York treffen auf die Theatermacher_innen des Festivals, begleiten das Programm und arbeiten in Masterclasses zusammen, die u. a. von Grazyna Dylag, Mike Bernardin und Nir de Volff unterrichtet werden.
FIND wird gefördert aus Mitteln des Landes Berlin, Senatsverwaltung für Kultur und Europa.
FIND plus findet statt in Zusammenarbeit mit
FIND plus wird gefördert durch
FIND wird präsentiert von